Jeannette Hagen war Anfang Februar auf Lesbos. Sie wollte da helfen, wo es richtig weh tut. Direkt dort, wo die Geflüchteten ankommen, wenn sie die Fahrt über das Meer überlebt haben. Jeannette wäre nicht Jeannette, wenn sie nicht über ihre Erlebnisse und Eindrücke schreiben würde, wenn sie ihre Erfahrungen nicht im Blog verarbeiten würde:

lesbos_jeannette_hagen Zu Beginn der Woche auf Lesbos war ich eine Fremde. Noch nie zuvor in Griechenland, noch nie auf Lesbos, noch nie Volonteer. Ich kannte keinen aus dem Team, von Nikos, der mich am Flughafen abholen sollte, hatte ich nur ein Foto. Es ist ein seltsames Gefühl fremd zu sein. Man kommt aus seinem Kokon der Geborgenheit und betritt absolutes Neuland. Wie oft tun wir das im Leben? Uns auf etwas ganz Neues einzulassen?

Im Alltag eher selten. Vielleicht, wenn wir den Job wechseln oder in eine andere Stadt ziehen. Für die Schutzsuchenden ist das Alltag. Sie verlassen ihre Heimat, sie kommen in Lager, sie steigen in Boote, sie werden von Fremden in Empfang genommen, durch Transitzonen geschleust. Sie stehen in fremden Ländern vor Stacheldrahtzäunen, hören andere Sprachen, sind unaufhörlich mit Herausforderungen konfrontiert. Wie behütet doch dagegen mein Fremdsein war. Wie leicht. Vielleicht weil alle, denen ich auf Lesbos im Team von Michael Räber begegnet bin, vom selben Startblock aus ins kalte Wasser gesprungen sind. Vielleicht, weil wir alle wussten, dass wir heimkehren können. Zurück in unsere warmen Wohnungen, zu unseren Familien, zu unseren Freunden.

Im Team gab es einen, der selbst vor ein paar Monaten aus Syrien über die Ägäis nach Lesbos gekommen ist. Nennen wir ihn Ahmad. Ahmad war in seinem früheren Leben IT-Berater. Hat studiert, viele Jahre in Dubai gearbeitet und kehrte nach Syrien zurück, als der Krieg längst begonnen hatte. Schon damals war er Fremder, erkannte sein Land nicht mehr.

„Wenn Du plötzlich siehst, wie Hunde auf der Straße die Leichenteile fressen, wenn deine Freunde nicht mehr leben, die die noch da sind, sich vollkommen verändert haben, dann willst du nur noch fort.“

Ahmad floh. Nicht zuletzt auch, weil das Militär ihn einziehen wollte. Ein konkretes Ziel hatte er nicht. Wie für die meisten, die flüchten, war auch für ihn das Wegkommen Ziel genug. Weit weg von all dem Grausamen, was er erlebt und gesehen hatte. Als er in Lesbos die ersten Tage im Camp verbrachte, begegnete ihm Michael Räber. Sie kamen ins Gespräch, aus Fremden wurden Freunde und plötzlich gab es für Ahmad eine Aufgabe. Er wurde Teil des Teams. Wenn die Boote ans Ufer kamen, konnte er mit den Menschen sprechen. Er konnte übersetzen und war damit einer von denen, die den Neuankömmlingen wenigstens ein bisschen das Gefühl geben konnten, nicht ganz so fremd zu sein.

Ich hatte mit Ahmad eine sehr berührende Begegnung. Nach einem Nachteinsatz fuhren wir zu fünft im Auto zurück Richtung Norden. Wir hatten vier Boote empfangen, waren müde. Ich saß am Steuer, Ahmad neben mir, die anderen drei schliefen hinten. Irgendwann fragte ich ihn, wie es sei, dieser Moment, wenn die Menschen an Land kommen. Ob er dann an seine eigene Flucht denkt. Ahmad antwortete mir nicht, sondern schaute unentwegt auf sein Handy, das im Minutentakt unterschiedlichste Töne von sich gab. Ich wusste, dass er mich gehört und auch verstanden hatte. Sein Englisch war perfekt, viel besser als meins. Ahmad ist ein Macher. Einer, der koordiniert, vernetzt, verbindet. Sechs Wochen war er jetzt auf Lesbos und es war klar, dass er irgendwann seine Zelte abbrechen wird, um weiterzuziehen. Aber in dem Moment war er scheinbar müde, irgendwie nicht da.

„Can I drive the car?“ fragte er mich plötzlich ganz unvermittelt, während ich unser Auto Richtung Molyvos, einer wunderschönen Hafenstadt im Norden von Lesbos lenkte. Ich nickte, hielt an und wechselte mit ihm den Platz. „Then I must not see the boots.“ sagte er, als der Motor wieder lief und schaute kurz zu mir herüber. Ich verstand nicht gleich, brauchte ein paar Minuten bis ich begriff, dass das die Antwort auf meine Frage war. Natürlich berührte es ihn. Natürlich weckte jedes Boot, das da an Land kam die Erinnerungen. Schnell nahm er die Kurven. So schnell, dass alle im Auto wieder aufwachten.

Zwei Tage später haben wir Ahmad am Flughafen verabschiedet. Wir haben alle geweint. Ausnahmslos. Weil wir einen Freund gehen lassen mussten, der nun wieder ein Fremder war.

Aber diese Geschichte hat ein Happy End. Vor ein paar Minuten hat mich die Nachricht erreicht, dass Ahmad es geschafft hat, dort anzukommen, wo er letztendlich hin wollte. Ich habe keine Ahnung, was die Zukunft für ihn bereithält, aber da, wo er jetzt ist, sind Menschen, die auf ihn warten und ihn unterstützen. Das macht mich unendlich glücklich, denn ich habe ja auch eine kleine Ahnung davon, wie es ist, fremd zu sein.

Jeannette Hagen

Jeannette Hagen ist freie Autorin und Coach. Ihr letztes Buch „Die verletzte Tochter“ erschien im Scorpio-Verlag. Zudem ist sie über ihre Homepage Jeannette Hagen und ihrem Blog Die Spaziergängerin zu finden.