Seit ich in Kladow, einem Ortsteil der stolzen Havelstadt Spandau, eine Unterkunft für unbegleitete Geflüchtete leite, weiß ich: Wir leben unter Flüchtlingen, es sind viele und das ist gut so.

Der Erkenntnisprozess setzte ein, als ich mit den Jungs und einigen BetreuerInnen Kaffee trinken war. Wir landeten, mangels Alternative an einem Montag Abend, im „Ristorante Riviera“ (es liegt an der Havel), einem von drei am Ort konkurrierenden Italienern. Zur Freude meiner afghanischen, iranischen und syrischen Jungs lief der Ofen mit bereits voller Kraft, bestellt wurde 12 Mal Kakao mit viel Sahne. Der etwas schrullige Kellner duldete keine Extrawünsche und war der festen Überzeugung, dass seine Hackfleischsoße (Rezept von Mama) die einzige in Kladow sei, die den Namen „Bolognese“ verdient hat. Er sprach natürlich perfekt deutsch, konnte und wollte dabei aber seinen Dialekt nicht verbergen, „Buonasera”, “Grazie” und “Ciao” inklusive.

Eine Einwanderergeschichte, Wirtschaftsflucht. In Deutschland leben rund 500.000 italienische Staatsangehörige, wir haben damit nach Argentinien die größte italienische Gemeinde außerhalb Italiens. Bereits seit dem Mittelalter prägen Italiener unser Zusammenleben, mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit setzte eine regelrechte Einwanderungswelle ein, es lockten Arbeitsplätze in der Autoindustrie, dem Kohlebau und der Stahlproduktion. Neue Regeln mussten her, 1961 wurden die Grenzen geöffnet, seitdem wanderten über eine halbe Million Italiener vor allem aus dem Nordosten und dem Süden Italiens ein. Dieser Tatsache verdanken wir, dass in keiner deutschen Stadt das venezianische Eiscafé und die neapolitanische Pizzeria fehlen.

Meine Uroma, Jahrgang 1900, sagte voller Überzeugung: „Alle Italiener mausen“. Irgendwie scheint dieses Vorurteil aber keine der beiden Seiten von einer Annäherung bis hin zur Integration abgehalten zu haben.

Kladow ist ein gutes Pflaster für die Arbeit mit Geflüchteten, viele substantielle Hilfs- und Beratungsangebote kommen von örtlichen Ärzten, Rechtsanwälten und dem Sportverein. Besonders engagiert sind dabei die Bewohner der „Finnenhaussiedlung“, möglicherweise, weil die Siedlung selbst ein Abbild von Krieg, Flucht und Völkerwanderung ist. Auch sie entstand in den bewegten 50ern, in einer Zeit also, die wie die unsere geprägt war von Wirtschaftsaufschwung, Wohnungsnot und Einwanderung. Die USA schenkten den Kladowern die Siedlung und machten sich dabei den Umstand zunutze, dass Finnland bei den Vereinigten Staaten in der Kreide stand. Die Finnen konnten ihre Schulden nicht begleichen und so landeten im Rahmen eines Dreiecksgeschäftes 379 Häuser aus hölzernen Fertigteilen in Kladow zur Unterbringung anerkannter politischer Flüchtlinge. Heute ist die Siedlung ein lebendiger Ortsteil, die kleinen aber schönen Wohneinheiten sind beliebt und prägen mit engagierten Vereinen, Versammlungen und Festen das Leben im Südwesten Berlins. Bei der Gründung des Willkommensbündnisses Gatow / Kladow waren Vertreter der Finnenhaussiedlung selbstverständlich dabei.

Und heute? Die kleinen Ortsteile Gatow und Kladow beherbergen in vier Einrichtungen rund 1.000 Geflüchtete aus den Teilen unserer Welt, die von Krieg, Terror und Perspektivlosigkeit geprägt sind. Vielleicht ist Kaldow ja deshalb eine gute Umgebung, weil es voller Flüchtlingsfamilien ist, denen man irgendwann die Chance gegeben hat, anzukommen. Der Besuch meiner Jungs in der örtlichen Pizzeria war insofern eine historische Begegnung.

Oliver Schmidt

Oliver Schmidt leitet seit Anfang dieses Jahres das Haus „Jugendwohnen Kladow“ für bis zu 88 minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. „Jugendwohnen Kladow“ ist ein Projekt von Stadtteilzentrum Steglitz e.V. im Auftrag der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft.