©kasto-Fotolia.comEin sozialwissenschaftlicher Exkurs

Neulich beim Frühjahrsputz ist mir mal wieder meine Diplomarbeit in die Hände gefallen.  Für diese habe ich gemeinsam mit einer guten Freundin untersucht, ob und inwiefern Ganztagsgrundschulen Ungleichheiten im Berliner Bildungssystem minimieren können. Besagte Arbeit habe ich nun fast neun Jahre später nochmals durchgeblättert und darin interessante Theorien, Ansätze und Ergebnisse wieder gefunden, die ich im Rahmen eines Leitartikels kurz zusammenfassen und teilen möchte:

Die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft wird zunehmend durch den individuellen Bildungs- und Qualifizierungsgrad bestimmt.  Wirtschaftliche und soziale Entwicklungen haben dazu geführt, dass Bildung für die Wahrnehmung von Lebenschancen immer mehr an Bedeutung gewinnt.  Ständig steigende und neue Qualifikationsanforderungen haben zur Folge, dass Geringqualifizierte immer weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.

Vor diesem Hintergrund gewinnt die Forderung nach Chancengleichheit im Bildungswesen immer mehr an Bedeutung. Chancengerechtigkeit bedeutet im Wesentlichen, dass das Erreichen von Bildungsabschlüssen und die daraus entstandene Verteilung von Lebenschancen so erfolgt, dass einzig und allein die individuellen Leistungen hierbei berücksichtigt werden. Nur wenn allen Mitgliedern der Gesellschaft unabhängig von leistungsfremden Merkmalen (z.B. soziale und ethnische Herkunft) die gleichen Bildungsmöglichkeiten eingeräumt werden, besteht Chancengleichheit im Bildungssystem.

Wissenschaftliche Studien bestätigen, dass es in Deutschland immer noch einen starken Zusammenhang zwischen der sozialen und ethischen Herkunft der Eltern und dem Leistungsstand bzw. der Bildungsempfehlung der Kinder gibt.  Diesen Ungleichheiten und Benachteiligungen muss bereits auf Grundschulebene entgegengewirkt werden, da im deutschen Bildungssystem der Übergang von der Grundschule in weiterführende Schulen die entscheidende Weichenstellung im Bildungsverlauf darstellt.

Warum aber schafft die Grundschule es nicht, diese Herkunftseffekte auszugleichen? In den wissenschaftlichen Debatten werden dafür verschiedene Ursachen aufgeführt, unter anderem institutionelle, individuelle, herkunftsspezifische, strukturelle und regionale Gründe, die zu Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen führen.  Zudem können auch kontextabhängige Faktoren, wie zum Beispiel die Zusammensetzung der Klasse eine Rolle spielen.

Oft wird die Struktur der deutschen Grundschule dafür verantwortlich gemacht, dass Benachteiligungen und Ungleichheiten entstehen. Die Grundschule ist noch auf das deutsche Mittelschichtkind ausgerichtet. Sie orientiert sich folglich an den Ressourcen und Fähigkeiten, die diese Kinder mitbringen und stellt somit jene schlechter, die nicht denselben Hintergrund haben.  Zudem bietet das deutsche „Halbtagsmodell“, dass im internationalen Vergleich eher die Ausnahme darstellt, nicht genügend Möglichkeiten, den Schulerfolg von der sozialen Herkunft zu entkoppeln.

Wir sahen das Festhalten am Konzept der Halbtagsschule als möglichen Grund für das schlechte Abschneiden Deutschlands in den internationalen Vergleichsstudien (z.B. PISA, IGLU) und haben uns gefragt, wie es wohl an Berliner Grundschulen mit Chancengleichheit aussieht und ob Ganztagsgrundschulen einen Beitrag zur Minimierung von Ungleichheiten leisten können. Da wir zu dieser Fragestellung keine wissenschaftlichen Studien fanden, entschlossen wir uns, eine eigene empirische Erhebung durchzuführen.

Selbstverständlich war es uns im Rahmen einer Diplomarbeit nicht möglich, eine repräsentative Studie zu erarbeiten. Nichtsdestotrotz ergaben die von uns entwickelten und durchgeführten Umfragen an drei Berliner Grundschulen interessante Ergebnisse.  Aus Gründen der Durchführbarkeit haben wir uns auf die Merkmale „elterlicher Bildungsgrad“ und „Migrationshintegrund“ konzentriert  und Schülerinnen und Schüler sowie Klassenlehrer_innen der jeweiligen sechsten Klassen befragt.

Im ersten Schritt haben wir zwei Halbtagsgrundschulen verglichen, die sich in ihrer ethnischen und sozialen Zusammensetzung deutlich voneinander unterschieden. Hierbei konnten wir aufzeigen, dass hohe Migrationsanteile in den Klassen und ein niedriger elterlicher Bildungsstatus sich so kumulieren, dass sich Bildungsbenachteiligungen verstärken.  In anderen Worten: die ethnische und soziale Herkunft der Eltern und Kinder beeinflussten den durchschnittlichen Bildungserfolg der von uns untersuchten Klassen.

Können diese, durch soziale Herkunftseffekte ausgelösten, Bildungsbenachteiligungen durch eine Ganztagsschulstruktur besser ausgeglichen werden als in einer Halbtagsschule? Um dieser Frage nachzugehen haben wir im zweiten Schritt unsere Umfrage an zwei Grundschulen mit hoher Migrationskonzetration durchgeführt, wobei sich die beiden Schulen hinsichtlich ihrer Unterrichtsstruktur unterschieden (Halbtags- vs. Ganztagsschule).

Diese Antwort ließ sich nicht eindeutig beantworten. Einerseits schnitten Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in beiden von uns untersuchten Grundschulen nach Einschätzung der jeweiligen Klassenlehrerin deutlich schlechter ab als ihre deutschen Mitschüler und Mitschülerinnen.  Dies haben wir als Benachteiligung und Ungleichheit bewertet.

Andererseits konnten wir aufzeigen, dass Ganztagsgrundschulen hinsichtlich der außerschulischen Aspekte die Chancengleichheit von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund fördern und zu ihrer Integration im Bildungssystem beitragen können. Es zeigte sich auch, dass die Ganztagsschule eher dazu in der Lage ist, Sprachdefizite, die auf mangelnde Deutschkenntnisse innerhalb der Herkunftsfamilie zurückzuführen sind, auszugleichen, als die herkömmliche Halbtagsgrundschule.

Da auch weitere Ergebnisse unserer Untersuchung dafür sprachen, dass einige benachteiligende Einflüsse auf den schulischen Erfolg von Kindern in einer Ganztagsgrundschule minimiert werden können, kamen wir zu dem Schluss, dass die Erweiterung der Schulzeit auf den Nachmittag im Rahmen einer gebundenen Ganztagsschulstruktur einen ersten Schritt in Richtung Chancengleichheit darstellt.  Dies beinhaltet aber auch eine Veränderung von Lehr- und Lernkultur durch Verknüpfung von Unterricht, Zusatzangeboten und Freizeit über den Vor- und Nachmittag hinweg.

Allerdings kann Chancengleichheit im Bildungssystem nicht allein durch schulsystem-immanente Steuerung und Programmgestaltung gewährleistet werden, da sich auch externe Kontextmerkmale auf die individuellen Bildungschancen auswirken. Eine Verringerung der Bildungsbenachteiligung kann nur durch ein systematisches Zusammenwirken von Bildungs-, Sozial- und Migrationspolitik gewährleistet werden. Somit bedeutet das Thema Chancengleichheit im Bildungssystem diskutieren zu wollen stets auch, die Verbindung unterschiedlicher politischer Themenfelder zu berücksichtigen und folglich Bildungspolitik als Querschnittspolitik zu betrachten.

(Auszüge aus der Diplomarbeit „Chancengleichheit an Berliner Grundschulen – können Berliner Grundschulen in Bezug auf soziale und ethnische Herkunft Chancengleichheit gewährleisten?“ Geschrieben von Saskia Bosch und Saskia Valle 2006)

Saskia Valle
Projektleiterin der EFöB an der Grundschule am Insulaner