Ein Gespräch mit meinem, in meinem Blog HOME Office, bereits zitierten Bekannten, Wirtschaftsingenieur, Doktor, Staatssekretär a. D., über Freiheit und Menschenrechte. Ich erzähle ihm, wie mein Weltbild zerbrach, oder zumindest rapide abbaute über die Jahre. Geboren 1965 im Weser Bergland, groß geworden an der Ostsee, lebte ich natürlich in der tief verwurzelten Gewissheit, auf der richtigen Seite zu stehen (wer in Geografie einen Fensterplatz hatte: ich bin Wessi). Die mit Stacheldraht bewehrte Zonengrenze hatte ich stets vor Augen, der Russe stand als manifeste Drohung quasi vor unserer Haustür.

Eine typische Szene aus meiner Jugend gefällig? Nur zu gern. Klassen- und Geschichtslehrer Horst Mevius befragte uns als Schüler der neunten Klasse des Jungen Gymnasiums „Oberschule zu Dom“ nach unserer Ansicht, und das lief so ab: „Wer ist der Meinung, dass wir die Olympischen Spiele in Moskau boykottieren sollten?“ Das Votum der Schüler fiel ungefähr Hälfte/Hälfte aus.

Sein nun folgender Vortrag über den Russen, seine Expansionsbestrebungen in Afghanistan und internationale Sportpolitik ist mir leider nicht mehr wörtlich in Erinnerung. Umso erstaunlicher, wurde er doch kraftvoll vom Lehrerpult aus in den Klassenraum gebrüllt und zwar im zackigen Da-geht’s-lang-habt ihr’s-endlich-kapiert? Ton. Abschluss: „Und wer ist JETZT für einen Boykott?!“ Alle Hände gingen hoch (nur nicht die von Rainer Laabs und mir, was eher unserem Rollenverständnis als Fundamentalopposition entsprach als politischer Weitsicht). Der Russe und seine Satteliten waren brutal, bedrohlich und unbarmherzig. Moskau knechtet und bespitzelt sein Volk und kennt nur das eine Ziel, diese Werte in alle Welt zu exportieren.

Wenn ein amerikanischer Präsident sich heute gegen den Einmarsch der Russen in ein anderes Land ausspricht, wenn er von Freiheit und Menschenrechten redet, ist er unglaubwürdig. In unseren Hirnen setzt sich das Kopfkino in Gang: amerikanische Foltergefängnisse, „erweiterte Verhörmethoden“, weltweit eingesetzte Abhörpraktiken … Auf welcher Seite standen wir da eigentlich über die Jahrzehnte? Vor allem auf unserer, denn uns ging es gut, in der DDR möchte ich nicht gelebt haben. Also alles gut?

Um auf das Gespräch mit meinem Staatssekretär zurückzukommen – er pflichtete mir bei und schloss die Frage an, wem wir unsere Zukunft denn überhaupt anvertrauen können? „Welches Land hält die Fahne der Freiheit und Menschenrechte hoch? Die Amerikaner? Die Chinesen? Europa? Wir?“ Meine Antwort darauf lautete: „Die Frage ist falsch gestellt. KEIN Land trägt diese Fahne glaubhaft vor uns her, wenn wir es nicht selber tun. Aber in JEDEM Land gibt es Menschen und Institutionen, denen wir vertrauen und mit denen wir uns vernetzen und verbünden können.“ Er gab mir Recht. Umweltaktivisten, Menschenrechtsgruppen, vernünftige und glaubwürdige Personen gibt es überall. Hier in Nationalstaaten zu denken ist absurd und irgendwie gestrig. Das organisierte Verbrechen, die Mafia und die Lobbyisten sind da längst weiter, zum Glück aber auch Organisationen wie Amnesty International – verschaffen wir unseren Ideen weltweit Gehör.

Um an dieser Stelle Missverständnissen aus dem Weg zu gehen: oft bin ich von Herzen national. Es gibt für mich kaum etwas Schöneres, als mit dem Zug durch Deutschland zu fahren, die Veränderung unserer Landschaften zu beobachten von der Geest im östlichen Holstein, wo ich aufgewachsen bin, durch die Mittelgebirge bis ins traumhaft schöne Alpenvorland. Nur habe ich immer weniger das Gefühl, dass dies „unsere“ Landschaften sind. Wer ist dieses „Wir“? Belasten Ausländer wirklich „unsere“ Sozialsysteme, wenn sie sich in Berlin oder Baden-Württemberg niederlassen? Ich spüre keine Gemeinsamkeit mit Herrn Meier aus Paderborn oder Frau Müller aus der Pfalz, jedenfalls nicht mehr als mit Kowalczyk oder Al Sayed.

Mit Meier und Müller teile ich die Gene und die Mene, also die kulturelle und zutiefst eingegrabene Erinnerung an Christentum alles, was deutsch sein eben ausmacht. Das prägt uns zutiefst und ist Teil unserer Identität. Es gibt aber Erfahrungen und Werte, die ich mit den Kowalczyks und Al Sayeds dieser Erde ebenso teile, egal welche Hautfarbe wir haben, welche Religion unsere Vorfahren praktizierten und welchen Bräuchen wir anhängen. Das Wir in mir löst sich auf – und setzt sich gerade neu zusammen.

Gestern waren wir alle Charlie. Dem Einwand einer arabischen Demonstrantin, warum ebenso brutal und zu Hunderten ermordete Palästinenser nicht ansatzweise das selbe Entsetzen, die selbe Trauer und die selbe Solidarität auslösen, wurde mit dem Hinweis begegnet, es käme nicht auf die Anzahl an. Seit wann das denn nicht?

Verteidigen wir wirklich die Pressefreiheit? Oder verteidigen wir unsere Pressefreiheit, unseren Frieden in Europa? Die Sozialsysteme würden zusammenbrechen, ließen wir alle sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge ins Land – hoffentlich tun sie’s bald, dann wären wir endlich gezwungen, „unser“ Sozialsystem zu überdenken. Ein nationales Sozialsystem will ich nicht, denn es kann nicht funktionieren.

Thomas Mampel veröffentlichte auf Twitter die Grafik des Grenzzauns, der das „Wir“ von denen da abgrenzt:

Grenzanlage-eu

Sie steht den Grenzanlagen der DDR, deren Fall, nein, deren Niederreißen durch die Eingesperrten wir gerade zu Recht gefeiert haben, in nichts nach:

Grenzanlage-ddr

Eingesperrt, ausgesperrt – das ist letztendlich eine Frage der Perspektive. Wir sperren uns ein, damit die da draußen uns mit ihren Problemen in Ruhe lassen.

Es wird Zeit, supranational zu denken, und zwar weit über die europäischen Grenzen hinaus. Umweltschäden machen vor Grenzen nicht halt, Terror nur bedingt, und wenn wir den Hunger aussperren können, vergeht mir doch der Appetit. Meinen beiden Töchtern, und sie sind der Grund für alles, was ich tue, wird es gut gehen, wenn es den Menschen um sie herum gut geht. Das gilt für unsere Siedlung, unsere Stadt, unser Land, unseren Kontinent und unseren Planeten gleichermaßen. Für’s gut gehen, für ein Leben in Würde und der Möglichkeit zur Entfaltung, gibt es keine Grenzen. Wir können nicht die Welt retten, aber wir können aufhören, diese merkwürdige und völlig abstrakte Unterscheidung zwischen uns und denen zu denken. DIE haben auch Töchter.

Oliver Schmidt

Oliver Schmidt ist Unternehmensberater (Sandwichpicker, Hultgren Nachhaltigkeitsberatung) sowie Gründungsberater für Student/innen und Absolvent/innen zahlreicher Universitäten. Er hält Vorträge und gibt Workshops im Spannungsfeld aus Marketing und Nachhaltigkeitsmanagement. In seinem Blog „HOME Office“ schreibt er über aktuelle Frage und neue Wege des Managements. Zudem begleitet er das Stadtteilzentrum Steglitz e.V. auf dem Weg zu nachhaltigem Arbeiten und Denken.