Foto: © kochy19258 – Fotolia.com

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Es sind solche Meldungen, wie die im Tagesspiegel vom 29.8. diesen Jahres, die mir manchmal fast die Tränen in die Augen treiben: Durch das Schreien eines Kindes in einem am Straßenrand geparkten Auto werden Passanten auf einen VW-Golf aufmerksam und verständigen die Polizei. Die Beamten entdecken im Auto ein sieben Monate altes Baby, ein anderthalbjähriges Mädchen, einen vier Jahre alten Jungen. Und die Mutter der drei Kinder, 24 Jahre alt. Der 42-jährige Vater kommt später hinzu – er war Wasser besorgen. Offensichtlich lebte diese 5-köpfige Familie schon seit längerer Zeit in dem Auto. Es war vollkommen verdreckt und zugemüllt.

Ich lese diese Zeilen und bin fassungslos. Stelle mir meinen kleinen Enkel vor, die vielen Kinder, die mir so im beruflichen und/oder privaten Umfeld begegnen – und ich werde unendlich traurig. Was für ein Leid müssen diese kleinen Menschen durchmachen? Welche tiefen Verletzungen und Beschädigungen müssen ihre kleinen Seelen verkraften? Ich überlege, wie diese Kinder einschlafen, mit welchen Gedanken und Gefühlen sie aufwachen. Wie sie auf andere Kinder schauen, die an ihrem Auto vorbeilaufen. Andere Kinder, die in richtigen Betten schlafen, in Kitas gehen, geliebt und versorgt werden. Das Jugendamt hat die drei Kinder in Obhut genommen und dem Kindernotdienst übergeben.

Mein nächster Gedanke gilt den Eltern. Was läuft in den Köpfen dieser Leute schief? Wie kann es sein, dass erwachsene Menschen in Kauf nehmen, mit ihren Kindern in solchen Verhältnissen zu leben. Wann haben diese Menschen mit ihrem Leben abgeschlossen? Wann haben diese Menschen aufgegeben an eine Zukunft für sich und vor allem für ihre Kinder zu glauben? Warum haben es diese Menschen offenbar nicht geschafft, nach Hilfe zu fragen, sich Rat und Unterstützung beim Jugendamt oder in irgendeiner Beratungsstelle zu holen. Bei aller Fehlerhaftigkeit unseres Sozialsystems: Wenn Du nicht mehr weiter weisst und am Boden liegst, findest Du in diesem Land IMMER einen Ansprechpartner. Erst recht, wenn Du Kinder hast. Wussten das diese Menschen nicht?

Und was ist mit dem “Hilfesystem”? Ist diese Familie schon vorher aufgefallen? Wusste irgendjemand von einer drohenden Obdachlosigkeit? Sind niemanden die Kinder aufgefallen, die ja auch irgendwann mal das Auto verlassen haben werden …? Fühlte sich niemand für diese Familie verantwortlich? Fragen, die vielleicht im Verlauf der Aufklärung dieses Falles beantwortet werden. Ich hoffe es …

Solche Fälle, wie der hier geschilderte, bestärken mich in meiner Haltung, dass wir im Bereich der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe radikal neue Angebots- und Projektformen brauchen, um Eltern, Kinder, Familien so frühzeitig wie möglich zu erreichen, wenn bei ihnen irgend etwas “nicht rund läuft”, sie in ihrer Erziehungspflicht und -verantwortung überfordert sind. Wir müssen ansprechbar und erreichbar sein. Wir müssen aufmerksam und offen sein für Dinge, die wir in unserem Umfeld wahrnehmen. Wir müssen Möglichkeiten, der Unterstützung und Hilfe entwickeln, die schnell, flexibel und unbürokratisch umsetzbar sind und die im Vorfeld eines Kontaktes zum Jugendamt initiiert und begonnen werden können.

In Steglitz-Zehlendorf arbeiten wir – Jugendamt, Stadtteilzentrum Steglitz, Mittelhof, FAMOS e.V.  und  weitere freie Träger –  gerade an der Entwicklung eines solchen Projektes. Wir nennen es “Sozialräumliche Leistungen (SRL)” und verstehen uns als flexible, innovative Einheit, die nah an den  Menschen  helfen will, problematischen Entwicklungen  frühzeitig entgegenzuwirken. In unserem Konzept schreiben wir: “Die Mitarbeiter/innen des SRL-Teams haben die Aufgabe, Kontakt zu Familien aufzunehmen, die sich bspw. über ihre Kita, die Schule oder auch das Jugendamt an das SRL-Projekt gewandt haben. Sie klären mit den Familien, an welcher Stelle die Unterstützung durch die Mitarbeiter/innen des SRL-Projektes am sinnvollsten sein kann. Was sind die Ziele der Familienmitglieder? Welche Ressourcenhaben sie in der Familie und welche der bereits existierenden Hilfen im System, zum Beispiel in den „Frühen Hilfen“, können für die Familie nutzbar gemacht werden? Bei Problemlagen werden kreativ, flexibel und effizient Ideen entwickelt und Wege zu bestehenden Einrichtungen, Hilfe- und Beratungsangeboten in Lankwitz und Lichterfelde aufgezeigt. Die Familie wird dabei unterstützt, bestehende Ressourcen in der Familie, in der Nachbarschaft und im Kiez selbständig zu nutzen.”

Ich hoffe sehr, dass unser Angebot dazu beiträgt, dass wir in Zukunft nicht mehr so häufig über dramatische Lebenssituationen von Kindern und Familien lesen müssen. Dafür lohnt es sich zu arbeiten, zu kämpfen, sich zu engagieren.

Thomas Mampel
Geschäftsführer Stadtteilzentrum Steglitz e.V.

Dieser Beitrag erschien am 30. August 2014 auf seinem Bolg „mampel’s welt