Wie viel Erfahrung steckt drinnen im Theater der Erfahrungen?

Der Name ist auf jeden Fall Programm. Seit 1980 entwickeln, schreiben und spielen Berliner Seniorinnen und Senioren ihre Stücke – auf den eigenen Erfahrungen basierend – selbst. Mal frech witzig, mal tragisch anrührend, unterschiedliche Dialekte und Sprachen nutzend, bringen sie Geschichten, die sie so oder ähnlich erlebt haben, auf die Bühne. Bezüge gibt es immer, ob im Alltag oder in der großen Politik – auf alle Fälle zu gesellschaftlich brisanten Themen. Um daraus Theater zu machen, sortieren die Gruppen gemeinsam den Stoff, diskutieren und improvisieren – unter der Leitung von TheaterpädagogInnen – bis ein Programm steht.

Wie werden die Schätze gehoben?

Bei der Schatzsuche finden sich riesige Schätze und kleinere Schätzchen. Da gibt es zum Beispiel den Nachwuchs-Workshop ‚Graue Stars‘, ein offenes Angebot für ältere Menschen, die sich einfach mal ausprobieren möchten. Sie treffen sich alle zwei Wochen im Nachbarschaftshaus Friedenau, bunt gemischt, ohne verbindliche Anmeldung, manche kommen schon seit Jahren immer wieder, manche fangen gerade erst an, sich in der Theaterwelt umzusehen. Es herrscht eine aufgeschlossene, freundliche, manchmal alberne Atmosphäre, nicht zuletzt, weil die Treffen von versierten Spielerinnen und Spielern aus den schon lange bestehenden Theatergruppen geleitet werden. Sie agieren ‚auf Augenhöhe‘ mit den Teilnehmenden und der gemeinsame Spaß genießt höchste Priorität. Hier werden Zufallsfunde zutage gefördert, sie werden nicht für die Dauer, für Wiederholbarkeit und für eine Stückentwicklung gesucht, sondern zum krönenden Abschluss der knapp dreistündigen Werkstatt als kleine Arbeitsergebnisse präsentiert. Diese kleinen Schätze sind ‚Tagesproviant‘, sie befriedigen die Teilnehmenden und diese entwickeln Spielfreude sowie Selbstvertrauen. Hier wird Interesse für die kontinuierliche Gruppenarbeit in anderen Zusammenhängen geweckt und der ‚Nachwuchs‘ von Theater der Erfahrungen gefördert.

Wann weiß man, dass es ein Schatz ist?

Oder es wird in der regelmäßigen Gruppenarbeit – Probe ist einmal in der Woche 3 Stunden – gezielter auf Schatzsuche gegangen. Natürlich wissen weder die Spielenden noch die Leitenden, was ‚hinten raus‘ kommt, aber zu Beginn einer Produktion gibt es eine ungefähre Einigung über das Themenfeld, das alle gemeinsam bearbeiten möchten. Es gibt einfachere und kompliziertere Annäherungen, auch abhängig von der Schwere des Themas. Wenn es z.B. um politische und persönliche Erfahrungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit, in der DDR oder um Migration geht, dann ist Behutsamkeit und Geduld geboten. In Improvisationen werden Erfahrungen und Erlebnisse gespielt, die dann besprochen und ausgewertet werden. In dieser Phase wird viel hin und her gewogen, passt das in den möglichen Stückverlauf, ist das nicht zu persönlich, will ich diese manchmal schmerzhaften Erinnerungen immer wieder auf offener Bühne präsentieren? Aber wenn alle gemeinsam durch diesen Prozess hindurch gegangen sind, ist die Ausbeute oft wirklich beeindruckend. Das erspielte Material ist im besten Sinne authentisch und muss dann in eine angemessene, theatralische Form gebracht werden.

Und die leichtgewichtigeren Schätzchen?

Auch wenn es in der Gruppenarbeit nicht um die dicken Vergangenheits-Brocken gehen soll, sondern gezielter von der Form her ein mehr unterhaltendes Programm entwickelt wird, schleichen sich die Erfahrungen ‚durch die Hintertür‘ ein. So geschehen bei der Produktion „Schlaflos in Berlin – Spätzünder im Bett“, einer fiktiven Pyjama-Party, zu der eine ältere Dame geladen hat, weil sie wie so viele SeniorInnen nicht einschlafen kann. In der Vorbereitungsphase haben die Spielerinnen und Spieler sich bekannte Melodien vorgeknöpft und diese mit eigenen Texten ausgestattet. Die neu entstandenen Lieder bilden nun eine berührende Vielfalt von Themen und Erfahrungen ab: die Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Berührung im Alter, die Klage einer verlassenen Frau, der Frieden in einer langen stabilen Ehe, aber auch die Tanz- und Amüsierlust, die Albernheiten und der schräge Humor älterer Menschen.

Die Schatzsuche hört nicht auf …

Wenn dann die Programme zur Premiere gekommen sind, eröffnen sich weitere Perspektiven, denn erst im Austausch mit dem Publikum zeigt sich, ob die richtigen Themen und Darstellungsformen gewählt wurden. Jede Aufführung ist neu und überraschend: Wie ist der Raum, welche ZuschauerInnen kommen, sind sie neugierig auf das Programm, wie reagieren sie und verbinden sich ihre Erfahrungen mit denen auf der Bühne?

Eva Bittner

Infos und Spielplan

Theater der Erfahrungen, Nachbarschaftsheim Schöneberg

Eva Bittner, Johanna Kaiser

Vorarlberger Damm 1, 12157 Berlin, Tel: 030/855 42 06

www.theater-der-erfahrungen.de, theater-der-erfahrungen@nbhs.de

Werkstatt Graue Stars: jeden 1. und 3. Montag, 11:00 – 14:00,
Nachbarschaftshaus Friedenau, Holsteinische Str.30, 12161 Berlin


Ein Beitrag aus dem Magazin „Im Mittelpunkt“ März/April 2017 mit dem Leitthema „Erfahrungsschätze“
Das ganze Magazin können Sie als eBook oder interaktives Pdf herunterladen, die gedruckte Version, einschließlich dem Einleger mit allen Veranstaltungen des SzS, finden Sie in unseren Einrichtungen.