IMG-20150215-WA0002 … während jemand anderes zur Toilette geht

Ein Fußballturnier, jährliche Streitschlichterausbildungen oder auch ein Graffitiprojekt. Stets versuchen wir Jugendlichen Angebote zu machen, die ihren Bedürfnissen und Wünschen entsprechen. Hiermit ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu fördern und zu begleiten, ist zudem einer unserer zentralen Arbeitsaufträge. Um auf diesem Gebiet noch besser zu werden, absolviert unser Team derzeit einen Workshop zum Thema „Engagementförderung“. Unsere Coaches, Thomas Glaw und Nina Vormelchert vom Nachbarschaftsheim Schönerberg, haben uns bereits in zwei Sitzungen überraschende und erhellende Perspektiven eröffnet, für die allein sich dieser Workshop bereits gelohnt hätte.

In der vorherigen Sitzung sprachen wir darüber, wie wir unsere Beobachtungsgabe im pädagogischen Alltag trainieren können, um überhaupt gezielt zu entdecken, welche Bedürfnisse und Wünsche in unseren Schülern schlummern.

So fragten wir uns zuletzt, was man aus folgender Alltagsbeobachtung, die eine Kollegin gemacht hatte, ableiten könne:

Anne und Mandy (Namen geändert) gehen während der Hofpause zusammen auf die Toilette. Sie werden daraufhin von einer Kollegin ermahnt, da sie in dem Moment gar nicht in dem Gebäude sein durften und gemeinsam auf die Einzeltoilette zu gehen ebenfalls nicht erwünscht ist. Nun verließen sie besonders langsam jenes Gebäude und diskutierten während dessen noch über den Sinn solcher Regeln.

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Sofort hatten wir als Team etwas, worüber man herzhaft schmunzeln aber auch streiten kann! Auch stellten wir fest, dass jede(r) von uns völlig unterschiedliche Gedanken zu der Situation hatte.

„Anne und Mandy liefen dann doch extra langsam, um sich einen Spaß daraus zu machen.“

„Die wollten nur nicht raus in die Kälte.“

„Sie wollten nur etwas Privatsphäre, vielleicht für ein vertrauliches Gespräch.“

„Anne und Mandy sind aber auch immer besonders frech.“

„Mit mir können sie das nicht machen.“

„Es nervt mich oft selbst, aber ich muss ja die Schulordnung durchsetzen.“

Diese und viele weitere Aspekte haben wir in sehr entspannter Atmosphäre besprochen. Aber was heißt das jetzt für unser Vorhaben der „Engagementförderung“?

Zuerst gehen wir davon aus, dass gesellschaftliche Teilhabe auch schon bei sehr alltäglichen, scheinbaren Kleinigkeiten beginnt – also möglicher Weise auch bei dem Recht, jederzeit ein WC aufzusuchen.

Die wirkliche Herausforderung liegt nun darin, „richtig“ hinzuschauen, die eigene Wahrnehmung kritisch zu hinterfragen und vor allem, das Gesehene gut zu dokumentieren. Wenn man dies tut, kann es sein, dass man überraschendes bemerkt. So wäre es denkbar, dass auch weiteren Kolleg_innen auffällt, wie oft sich Anne und Mandy von anderen Jugendlichen loslösen oder gar verstecken. Und schon wäre dies eventuell „ein Thema“, das zu bearbeiten sein könnte – z.B. als Klassenrat mit der Frage „Was können wir für ein gutes Klassenklima tun, bei dem sich jeder willkommen fühlt?“

Wir müssen lernen bzw. üben diese Themen, die uns tagtäglich begegnen, noch besser wahrzunehmen. Auch sollten wir uns bewusst machen, wo unsere Unterstützung für die Jugendlichen anfangen und enden soll, aber eben auch welche klaren Grenzen unser Arbeitsort (die 10. Integrierte Sekundarschule in Berlin Steglitz) uns vorschreibt.

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Ob es nun Räume für Kids sind, Änderungen der Hausordnung oder auch ein frecher Ton gegenüber den Mitarbeitenden, dies alles sind Themen, die wir ausmachen konnten anhand von Anne und Mandy, als sie zur Toilette gingen. Diese Themen nun in der Schülerschaft zu bearbeiten, Mitstreiter_innen dafür zu gewinnen oder auch in den Schulgremien dafür einzutreten, ist vor allem Sache der Jugendlichen selbst. Wir möchten sie jedoch wertschätzen und fördern.

Klassensprecher, Schulsprecher, Schülervertreter in der Schulkonferenz und einige mehr haben durch ihre Mitschüler_innen den Auftrag erhalten, für die Belange der Jugendlichen zu kämpfen. Die Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte ist es, sie dabei nach Möglichkeit zu unterstützen. Das können wir, indem wir ihnen zeigen oder sagen, dass wir sie und ihre Belange sehen und respektieren. Wir können ebenfalls unsere Unterstützung und Organisation zur Verfügung stellen.

Nunmehr haben wir noch einen Workshop- und einen Abschlusstermin mit den beiden Coaches vor uns. Ich bin gespannt, welche Aha-Effekte noch eintreten werden und vor allem welchen Einfluss das Gelernte auf unsere zukünftige Arbeit haben wird.

Es bereits großartig, den „Blick von außen“ auf die eigene Arbeit zu bekommen und eigene Sichtweisen auf Situationen mal wieder kritisch zu hinterfragen. Schon dafür dankt das EFöB-Team der 10.ISS Nina Vormelchert und Thomas Glaw von Herzen!

Sebastian Unger
Projektleiter der EFöB an der 10. ISS