Vor nicht allzu langer Zeit war ich auf den Seelower Höhen – ein Ort des Gedenkens an die große Schlacht zwischen deutschen und sowjetischen Soldaten, die das Ende des Krieges in Europa einläutete. Ich war als Kind mit meiner Klasse schon einmal dort, um mir einen Vortrag über die „ruhmreiche Sowjetarmee“ und ihre Helden anzuhören. Bereits damals habe ich nicht verstanden, warum Menschen, die sich gegenseitig abschlachten, als Helden bezeichnet werden. Ist nicht jener der Held, der Leben rettet? Und muss man, um das Leben vieler zu retten, tausende opfern?

Für mich taugt der Heldenmythos im Zusammenhang mit Krieg nicht. Überhaupt ist so mancher Heldenstatus zweifelhaft, der damit einhergeht, Macht über andere auszuüben, Menschen kleinzuhalten oder zu dominieren. Leider ist es nach wie vor tief in uns verankert, diese Art der Macht auf Sockel zu heben und ehrfürchtig vor ihr zusammenzuzucken. Woher kommt das eigentlich?

Jeder, der Vorfahren hat, die den Krieg erlebt haben, trägt Krieg in sich. Das sagen zumindest jene, die sich intensiv in die Thematik der Epigenetik und in die transgenerationale Weitergabe von Traumen eingearbeitet haben. Aus Studien ist bekannt, dass Traumata unter anderem über sogenannte RNA-Schnipsel in den Spermien übermittelt werden und dass sogar Enkel diese Informationen noch in sich tragen. Isabelle Mansuy von der ETH Zürich hat das in Experimenten mit Mäusen nachgewiesen und die Ergebnisse der Studien 2014 im „Nature Neuroscience“ veröffentlicht. Demnach ist es vorrangig der erlebte Stress, der diese Veränderungen im Erbgut auslöst. Er sorgt dafür, dass die Nachkommen schon von Geburt an weniger stressresistent sind. Gleichzeitig konnten Veränderungen im Stoffwechsel nachgewiesen werden. So lag der Insulin- und Blutzuckerspiegel niedriger als bei Jungtieren, deren Eltern und Großeltern keinen Stress erfahren hatten.

Themen des Krieges werden also bis in unsere heutige Zeit weitergetragen und mit ihnen auch die Mythen und Heldengeschichten. Das stellt uns vor allerlei Herausforderungen, die auf den ersten Blick überhaupt nichts mit Kriegsgeschichten zu tun haben – die allerdings unsere Beziehungen zu Menschen, Führungspersönlichkeiten und ebenso unser Verhältnis zur Politik, zum Staat oder zur Demokratie bestimmen. Die Politikwissenschaftlerin und Autorin Barbara von Meibom spricht in ihrem Buch „Deutschlands Chance – Mit dem Schatten versöhnen“ davon, dass durch die Nationalsozialisten „in unserem Land geistiges Potential missbraucht wurde.“ Weiter sagt sie: „Dieser Missbrauch hat in Deutschland zum Einfrieren von Gefühlen und Fähigkeiten geführt, die uns heute in erheblichem Maße fehlen: die Fähigkeit, sich zu begeistern, die Fähigkeit, gelingende Beziehungen aufzubauen und zu entwickeln, die Fähigkeit, sich gemeinschaftlich mit anderem im Geiste zu verbinden, (…), die Fähigkeit, sich für die höchsten spirituellen Fragen und Wahrheiten zu öffnen, Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens zu suchen und den »Himmel auf die Erde zu bringen«, sprich: zu einer Humanisierung der Gesellschaft beizutragen.“ Sich damit auseinanderzusetzen, legt einen Fundus an Werkzeugen frei, die nicht nur helfen können, sich selbst besser zu verstehen, sondern auch gesellschaftliche oder politische Prozesse besser einzuordnen.

Das Spannende ist, dass gerade die „Kriegsenkel“ offensichtlich das Potential in sich tragen, aus diesen Mustern auszubrechen. Darüber hat Ingrid Meyer-Legrand ein Buch geschrieben. Legrand ist Systemische Therapeutin und hat eine eigene Methode entwickelt, die Schätze der Kriegsenkelgeneration zu heben. Mit Hilfe von der von ihr konzipierten Biografiearbeit wird es den Betroffenen möglich, die Kompetenzen im Umgang mit den Herausforderungen ihrer individuellen Biografie und der Zeitgeschichte wertzuschätzen und als Chance zu nutzen. Gleichzeitig versetzt sie die Klienten mit dieser Arbeit in die Lage, Heldenmythen zu hinterfragen und im besten Fall dem eigenen Leben mit der Hochachtung zu begegnen, die man sonst vielleicht fälschlicherweise jenen falschen Helden schenkt, die sie gar nicht verdient haben.

Ingrid Meyer-Legrand liest am 16. Mai 2019
aus ihrem Buch „Die Kraft der Kriegsenkel“.

 

Gastgeber: Kunst für Demokratie + Stadtteilzentrum Steglitz e.V.

Ort: Stadtteilzentrum Steglitz e.V. Holsteinische Str. 39-40.
Beginn ist 19 Uhr. Eintritt an der Abendkasse: 7 Euro.

Jeannette Hagen