Der Weg zur Teilhabeberatung (EUTB) des Stadtteilzentrum Steglitz e.V.

Wie alles begann
Seit 1993 lebe ich mit Behinderung. Die Diagnose einer Netzhauterkrankung kam für mich völlig überraschend. Meine gesamte Lebenssituation wurde dadurch er­schüttert und meine Lebensplanung geriet völlig aus dem Gleichgewicht. In der Zeit, in der die Retinitis Pigmentosa entdeckt wurde, bewegten mich viele Fragen: Was soll aus mir werden?  Kann ich meine Arbeit weiter ausführen und wie lange wird das möglich sein? Kann ich überhaupt mit dieser schweren Behinderung leben?

Bis zu diesem Zeitpunkt bin ich in der Position gewesen, in meiner Arbeit anderen Menschen zu helfen – jetzt bin ich selbst behindert. Vor mir lag ein großer leerer Raum, von dem ich zunächst keine Vorstellung hatte, wie ich ihn gestalten sollte. Hinter mir lagen 18 Jahre er­werbstätige Arbeit in zwei Berufen (Krankenschwester, Erzieherin), von denen ich mich wegen der voranschreitenden Erblindung verabschieden musste. Ich fühlte mich an einem Scheidepunkt und überlegte, wie ich mit meinen Arbeitserfahrungen weitergehen könnte. Auch wenn ich nicht mehr sehen konnte, war doch mein Wissen nicht verloren. Da ich umfangreiche Erfahrungen in den Bereichen Medizin, Therapie und Selbsterfahrung hatte, entschied ich mich für eine dreieinhalbjährige Gestaltthera­pieausbildung.

Im Sommer 1998 bewarb ich mich bei der Stiftung LEBENSNERV als Peer Coun­selorin in einem ABM-Projekt. Leider konnte sich die zuständige Mitarbeiterin des Arbeitsamtes nicht vorstellen, dass ich als blinde Frau den Arbeitsweg schaffen könne und verhinderte meine Einstellung in das ABM-Projekt. Doch Frau Dr. Arnade war überzeugt, dass ich genau die richtige Mitarbeiterin für das Peer Counseling sei. Sie stellte mich im Februar 1999 mit der degressiven Förderung des Arbeitsamtes ein. Zusätzlich beantragte sie Gelder bei Sponsoren. Damit war schließlich eine mehrjährige Beschäftigung für mich als Peer Counse­lorin und das Beratungsangebot für MS-Betroffene gesichert.

Im Juli 2001 bekam ich eine feste Anstellung als Peer Counselorin in der Fürst Donnersmarck-Stiftung. Ich konnte alle Ratsuchenden mitnehmen, da dieser Arbeitsplatz neu eingerichtet worden war. Dort arbeitete ich bis Mitte 2012, mein Leben führte mich dann für einige Jahre nach Belgien …

Im Rahmen der EUTB nehme ich nun meine Arbeit als Peer Counselorin wieder auf und freue mich auf die Begleitung von Menschen mit Behinderung und ihren Angehörigen.

Die Bedeutung der Diagnose und eines Lebens mit Behinderung
Nach der Diagnosestellung beginnt eine Phase des Umgangs mit der Erkrankung. Neben der Krankheitsbewältigung kommt auf die betroffene Person die Aufgabe zu, ihr soziales Umfeld über die Erkrankung zu informieren und mit Reaktionen der Um­welt auf die Behinderung umgehen zu lernen. In unserer Gesell­schaft herrscht immer noch das Bild, dass von Behinderung betroffene Menschen „an den Roll­stuhl gefesselt“ seien, blinde Menschen nicht alleine laufen können, Menschen mit kognitiven Einschränkungen „blöd“ sind usw. In der Partnerschaft können Veränderungen ein­treten, wenn die betroffene Person Aufgaben im Haushalt nicht mehr wie gewohnt bewältigen kann, weil sie einen fortschreitenden Verlauf der Erkrankung hat und damit Einschränkungen der Mobilität verbunden sind. Oft entsteht ein Einbruch in das gängige Rollenverständnis, das in der Beziehung entwickelt wurde. Das kann zu Partnerschaftskonflikten führen, in denen die Betroffenen mit weiteren Belastungen auf psychischer Ebene konfrontiert sind.

Es ist üblich, Partner zu bewundern, wenn sie mit einer schwer erkrankten Person zusammen leben. Immer wieder erfuhr ich in Beratungen, dass Ehemänner, deren Partnerinnen mit Behinderung leben, für ihre guten Taten bewundert werden oder bemitleidet dafür, wie schwer sie es haben. In Außenkontakten des Paares wird die Frau oftmals nicht mehr direkt angesprochen, sondern in ihrer Gegen­wart über sie gesprochen. Sie zählt nicht mehr. Die Betroffene fühlt sich dadurch entmündigt und nicht beachtet.

Viele Menschen haben Botschaften verinnerlicht, behinderten Menschen helfen zu müssen. Sie wollen einfach etwas Gutes tun und fragen nicht danach, ob die Betroffenen Hilfe benötigen oder nicht. Sie schieben Menschen im Rollstuhl auf der Straße einfach weg, ohne überhaupt Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Oft müssen sich Betroffene anhören, dass dies doch nur gut gemeint sei. Durch dieses Verhalten wird ihnen jedoch automatisch die Rolle der Hilflosen zugewiesen. Die helfende Person kann daraus den Gewinn ziehen, gut zu sein oder die eigene Unsicherheit über­spielen. Diese Rollenzuschreibungen können das Selbstbe­wusstsein der Betroffenen beeinträchtigen. Neben der Krankheitsbewältigung müssen sie sich mit entmündigenden Einflüssen der Fürsorgegesellschaft auseinander setzen.

Häufige Krankenhausaufenthalte und der Umgang mit Behörden, um Nachteilsausgleiche (z.B. Behindertenausweis, Hilfsmittel, Parkerlaubnis, Eingliederungshilfen, Arbeitsassistenz …) zu beantragen, erfordern einen zermürbenden Kraftauf­wand von den Betroffenen. Viele sind herausgefordert, ihre Rechte durch Widersprüche einzufordern, weil ihre Anträge abgelehnt werden.

Bauliche Barrieren wie Treppen, nicht barrierefreie Toiletten und Busse im öffent­lichen Personen Nah- und Fernverkehr, Unzugänglichkeit in den Medien behindern Menschen mit Behinderungen. Diese Ausgrenzung aus dem öffentlichen Leben schränkt ihre Mobilität ein, verstärkt Gefühle der Hilflosigkeit und kann zu Vereinsamung führen. Neben gesellschaftlichen Faktoren spielen persönliche Einstellungen und Bewälti­gungsmuster eine wichtige Rolle. Da der Krankheitsverlauf von chronischen Erkrankungen oft unberechenbar ist, durchleben viele Betroffene längere Phasen der Angst vor noch mehr Einschränkungen.

Durch das Peer Counseling können Barrieren abgebaut werden, weil Peer Beraterinnen aus eigener Erfahrung eine Vorbildrolle einnehmen und ein Austausch über die eigenen Erfahrungen und das Herausfinden der eigenen Stärken eine Entlastung für die Alltagssituation der Betroffenen sein kann.

Monika Maraun
Teilhabeberatung (EUTB) des Stadtteilzentrum Steglitz e.V.

Die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) ist ein Beratungsangebot für Menschen mit (drohender) Behinderung sowie für deren Angehörige und soziale Bezugspersonen, dass zum 01.01.2018 durch die Novellierung des SGB IX durch das Bundesteilhabegesetz eingeführt wurde. Ziel ist es, die Eigenverantwortung und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung zu stärken. Das niedrigschwellige, adressaten- und sozialraumorientierte Beratungsangebot soll bereits im Vorfeld der Beantragung konkreter Teilhabeleistungen den Ratsuchenden die notwendige Orientierungs-, Planungs- und Entscheidungshilfe geben. Die Beratung findet unabhängig von Leistungsträgern statt, ersetzt aber die Beratungspflicht der jeweiligen Rehabilitationsträger nicht.

Informationen und Anmeldungen:

Peer Counseling Angebot im Rahmen der EUTB im Stadtteilzentrum Steglitz

Monika Maraun
Gestalttherapeutin, Peer Counselorin

maraun[at]sz-s.de
Telefon 0
174 2 43 95 21

Heilpädagogisch systemorientierte Beratung im Rahmen der EUTB im Stadtteilzentrum Steglitz

Judith Schniebel
Heilpädagogin (B.A.), Erzieherin
schniebel[at]sz-s.de
Telefon 0172 8 65 26 40

Illustration des Beitragsbildes: @ Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung Bremen e.V., Illustrator Stefan Albers, Atelier Fleetinsel, 2013.