Trubel im Eingangsraum der Kita. Eltern bringen ihre Kinder, hängen die Jacken an die Haken, ziehen ihnen die Hausschuhe an und verabschieden sich. Die Kleinen verschwinden in die Gruppenräume und ganz langsam kehrt Ruhe ein. Die Frühstücksrunden beginnen. In einem Gruppenraum bemerkt die Erzieherin, dass eins der Kinder eine Rötung unter dem rechten Auge hat. Sie denkt kurz darüber nach, ob es in der letzten Woche nicht das linke Auge mit einer Rötung war. Dann wird sie abgelenkt und vergisst es erst einmal wieder. Später am Nachmittag hatte die Gruppe mit Kleister gebastelt. Die Erzieherin geht mit dem Kind zum Waschbecken, um die Hände zu waschen. Sie schiebt den Ärmel hoch und bemerkt dabei einen blauen Fleck am Ellbogen. Jetzt kann sie ihre Verwunderung kaum mehr unterdrücken. Die Eltern holen das Kind ab, ohne dass die Erzieherin das Gespräch sucht. Sie ist unsicher, was sie tun soll, und spricht ihre Kitaleitung an. Spätestens an diesem Punkt muss der Kinderschutz ansetzen. Doch wie fängt man es besonnen und tatsächlich zum Schutz des Kindes an? Die Erzieherin braucht hier Unterstützung und Beratung, um vorerst eigenes Verhalten und Gefühle zu reflektieren. Sind ihre Eindrücke korrekt oder übertrieben? Wie handelt sie hier richtig? Ein behutsames Gespräch mit den Eltern suchen? Das Jugendamt informieren? Fakt ist: Das Thema muss auf den Tisch.

Nur – wie sprechen wir über etwas, das es eigentlich in unserer Vorstellung, unseren Köpfen und der Gesellschaft nicht geben darf? Erziehung und Pädagogik hat sich ganz besonders seit den 1960er-Jahren stark verändert, auch wenn Körperstrafen erst im Jahr 2000 gesetzlich in Deutschland verboten wurden. Kinderschutz ist jedoch weit mehr als der Schutz vor Schlägen. Das Kind per se wurde zur eigenständigen Persönlichkeit, dass ein gesetzliches Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit hat. Die erzieherische Aufgabe sowie gesunde körperliche und geistige Entwicklung liegen elementar in der Hand der Eltern. Deren Schutz ist vordringliche Aufgabe von Staat und Gesellschaft geworden. Kinderschutz unterliegt einem gesetzlichen Auftrag, an den durch das Bundeskinderschutzgesetz (2012) alle – Eltern, Jugendämter, Lehrer*innen, Pädagogik*innen, Erzieher*innen, Ärzteschaft und alle verbundenen Akteure – gebunden sind. Und trotz aller gesetzlicher Regelung ist die Dunkelziffer von Kinderschutzfällen ungeahnt hoch. Unter normalen Umständen fällt es schwer, eine Vorstellung zu entwickeln, was erwachsene Menschen Kindern antun können. Doch gerade die Pandemie seit März 2020 lässt das tatsächliche Ausmaß an Kinderschutzverletzungen nur erahnen. Kindeswohl ist stark gefährdet – bei uns, unter uns und nebenan. Darüber muss geredet werden.

Das Stadtteilzentrum Steglitz e.V. hat die Notwendigkeit der Arbeit in Richtung Kinderschutz sehr früh erkannt. Seit 2013 angestellt, wird Birgit Kiecke ab 2015 als Kinderschutzfachkraft beschäftigt. Später kommt eine Weiterbildung als „insoweit erfahrene Fachkraft nach § 8a SGB VIII“ hinzu, die Frau Kiecke seit 2019 mit einer vollen Stelle ausschöpft. Als anerkannter Jugendhilfeträger betreibt das Stadtteilzentrum neben Nachbarschaftseinrichtungen auch im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe zahlreiche Einrichtungen: Kindertagesstätten, Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen, einen Familienstützpunkt sowie Schulkooperationen. Dabei beziehen wir intergenerative, inklusive und sozialraumorientierte Ansätze in unsere tägliche Arbeit ein und vertreten diese Werte dialogisch nach außen. Zurzeit besuchen 861 Kinder unsere Kita- und Horteinrichtungen. Hinzu kommen die Kinder und Jugendlichen, die unsere offenen Einrichtungen in der Freizeit nutzen. Alle diese Kinder und Jugendlichen gilt es zu schützen und ihnen einen Raum zu schaffen, der ihnen altersentsprechende Förderung und Entwicklung garantiert. Um diesen Schutz erfolgreich gewährleisten zu können, müssen wir bei unserer täglichen Arbeit und unseren Mitarbeiter*innen ansetzen.

Die Inhalte ihrer Arbeit zieht Birgit Kiecke aus den Bedarfen der Mitarbeiter*innen, die an sie herangetragen werden. Ein wichtiges Element ist die kollegiale Fallberatung. 4 bis 7 Kolleg*innen kommen dabei zusammen. Ein Fall wird vorgestellt und jede*r Anwesende beschreibt, was er oder sie tun würde. Dabei muss berücksichtigt werden, dass alle Beteiligten ihre eigene Geschichte, Haltung und erlernte Verhaltensweisen mitbringt. Jedes Team unterliegt einer eigenen Dynamik, unter deren Aspekt so ein Fallbeispiel beraten wird. Wie kann, darf oder muss gehandelt werden. Viele Fallbeispiele werden mit einer persönlichen Reflexion begonnen. Birgit Kiecke hilft die Erinnerungen und Eindrücke des Falles zu sortieren und gibt dem ganzen Struktur. Die Emotionen werden auf eine sachliche Ebene gebracht, bevor alles weitere in einer Supervision im Team besprochen wird. Unsicherheiten, Vorbehalte und Vorurteile müssen minimiert werden, um eine zielgerichtete und helfende Handlung im Sinne des Kinderschutzes möglich zu machen.

Neben den Fallbesprechungen obliegt Birgit Kiecke die Bearbeitung des Trägerschutzkonzeptes, das einrichtungsübergreifende Geltung im Stadtteilzentrum hat. Zusätzlich dazu gibt es einrichtungsbezogene Konzepte und Risikoanalysen. Dazu sagt Birgit Kiecke, dass es um die Auseinandersetzung mit der Sache und den Prozess geht, nicht um die fertigen Schriften. Es gibt keinen Kinderschutz 2. Wahl und muss deshalb permanent besprochen, beobachtet und bearbeitet werden. Doch trotz aller Handlungskonzepte ist die Hemmschwelle, darüber zu reden, oft groß. Was tun, wenn man übergriffiges Verhalten bei Kolleg*innen beobachtet? Was, wenn Kolleg*innen aus Kooperationen nicht die gleichen Wertvorstellungen teilen? Wie handelt man richtig, wenn im Bezug auf Kinderschutz unterschiedliche kulturelle Hintergründe aufeinandertreffen?

Besonders die persönliche, auf Wunsch auf anonyme, Beratung der Kolleg*innen ist ein sehr wichtiges Element in der Arbeit der Kinderschutz-Beauftragten. Allein das Wissen, dass sie erreichbar ist, hilft und gibt Sicherheit im Alltag. Auch die Präsenz durch interne Seminare mit Themen wie „Elterngespräche, auch im schwierigen Kontext sicher führen“, „Frühe Bindung und Umgang mit herausforderndem Verhalten im päd. Alltag“ oder „trans*Identität“ stärkt die Teams. Auch diese Seminarthemen ergeben sich aus der Arbeit der Kolleg*innen und den jeweiligen Erfordernissen.

Der Kinderschutz an sich hatte schon immer eine sehr hohe Priorität innerhalb des Trägers und ist aus der täglichen Arbeit nicht wegzudenken. Durch die volle Stelle der Kinderschutzfachkraft und „insoweit erfahrene Fachkraft nach § 8a SGB VIII“ ist eine nachhaltige und zielgerichtete Bearbeitung möglich geworden. Die Vernetzung des Kinderschutzes mit allen anderen Arbeitsbereichen des Trägers ist eng gesetzt. Es gibt Handlungskonzepte und es gibt vor allem jemanden, den man fragen kann. Birgit Kiecke schätzt dabei ganz besonders 30 Jahre Berufserfahrung, auf die sie zurückgreifen und so jüngeren Kolleg*innen die Ruhe und Sicherheit geben kann, die oft notwendig sind, um richtige Schritte zu tun. Das oben beschriebene Kitakind bekam nach einem einvernehmlichen Gespräch mit den Eltern und einer ärztlichen Untersuchung eine erste Brille verschrieben. Kinderschutz in allen Facetten ist machbar – wenn man hinschaut, bespricht, hinterfragt und immer wieder sensibilisiert.

Anna Schmidt