Das Abenteuer Digitalisierung in der Offenen Kinder und Jugendarbeit

Das Fortnite-Turnier aufgegeben habe ich, nachdem sich irgendein fremder Spieler Zugang zu unserer Arena verschafft hatte (obwohl ich dachte, ich hätte diese Möglichkeit deaktiviert), in Windeseile einen riesigen Turm baute und anfing, von oben auf alles zu schießen, was sich bewegt. Die daraus entstandene Verwirrung auf dem Schlachtfeld übertrug sich sofort auf den Voice-Chat, wo die rund zwanzig Jugendlichen, die am Turnier teilnahmen, sich bemüßigt fühlten, lautstark Taktiken zur Entsorgung des Störenfrieds zu brüllen. Da war es dann vorbei mit der spielerischen Entspannung. Schon zu Beginn des Turniers war einiges schiefgegangen: Unser (vorher mehrfach getestetes) Mikrofon blieb erst mal stumm, dann gab es Schwierigkeiten bei der Auswahl des Spielmodus und der Karte, kurzum: Nach rund 20 Minuten brach ich das Turnier ab, nahm es mit Humor und werde es bald nochmal versuchen. Mit mehr Erfahrung.

Ist Ihnen die Verbindung von „Offene Jugendarbeit“ mit „Fortnite“ sauer aufgestoßen? Sind Sie beim Wort „Schlachtfeld“ zusammengezuckt? Denken Sie, bei der vieldiskutierten Digitalisierung ginge es doch nur darum, Videospiele zu spielen? Falls Sie diese Fragen mit „ja“ beantwortet haben, sind Sie in guter Gesellschaft. Für viele Menschen ist „Digitalisierung“ noch immer etwas, das mit chatten und spielen zu tun hat, nur Jugendliche betrifft und dabei schädlich für sie ist.

Aber es geht um mehr. Digitalisierung ist seit langem ein bestimmendes Thema unserer Zeit, und es muss endlich auch umfassend in der pädagogischen Arbeit ankommen – nicht nur, indem man vor Gefahren warnt (wobei das selbstverständlich dazugehört), sondern auch in der praktischen Arbeit mit positiven, sinnvoll nutzbaren Inhalten. Mein Kollege Kristoffer Baumann hat dazu in seinem Artikel geschrieben, dass die Digitalisierung nicht kommt, sondern längst da ist. Die Kinder und Jugendlichen, die wir in unserer „Imme“ mit offener pädagogischer Arbeit betreuen, haben ein fundamental anderes Verständnis von sozialer Kommunikation, und wir – Eltern, Lehrer, Sozialarbeiter – müssen dabei vieles aufholen, aber auch strukturieren und nutzbar machen.

Ich zumindest bekam in den letzten Wochen, in der die Corona-Krise auch unsere Einrichtung lahmlegte, einen lebensnahen Crashkurs in Digitalisierung. Unser Ziel war (und ist), trotz Schließung in Kontakt zu bleiben und pädagogische Angebote zu machen. Das klappte auch soweit ganz gut, solange man niedrigschwellig Kanäle nutze, die man ohnehin schon länger zur Außendarstellung in Anspruch nahm. Unser erster Livechat über Instagram war denn auch ein voller Erfolg mit über fünfzig Teilnehmenden.

Die Herausforderungen tauchten erst auf, als es darum ging, eine auf unsere Einrichtung zugeschnittene digitale Jugendarbeit zu standardisieren. Instagram beispielswiese ist nett als spontanes Tool, aber es ist nun mal wenig echter Austausch möglich. Was also stattdessen nutzen? In den ersten beiden Wochen probierten wir eine Vielzahl von Plattformen aus, um regelmäßige Live- bzw. Video-Chats zu ermöglichen. Jede hat ihre Vor- und Nachteile, und jede wird von unserer Zielgruppe auf unterschiedliche Weise akzeptiert. Manche Livestreams, in denen wir online kreative Spielangebote wie „Skribble“ durchführten, waren voll, an manchen Tagen aber kamen nur eine Handvoll Jugendlicher online. Viele waren zuverlässig immer da, von anderen hörte man tagelang nichts.

Wir sind schließlich bei „Whereby“ angekommen und nutzen es regelmäßig. Dennoch hört  die Suche nach Kanälen niemals auf und wird auch in Fachkreisen kontrovers diskutiert. Soll man beispielsweise „What’s App“ nutzen, um Aktionen anzukündigen? Ein heikles Thema, denn spätestens seit der DSGVO ist dieses Programm auf der schwarzen Liste. Aber die Kinder und Jugendlichen nutzen es nun mal, ob sie es dürfen oder nicht. Sie auf vermeintlich sichere Kanäle wie etwa Telegram zu lotsen, hat bisher nur begrenzt funktioniert.

Und dann die Angebote. Spiele, Turniere, Kunst-Challenges, Tanzvideos, Schularbeitshilfe und vieles mehr, alles online – was wir und auch andere Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in kürzester Zeit entwickelt haben, kann sich sehen lassen und macht Hoffnung, dass es auch „nach“ der Corona-Krise weitergeht, dass also digitale Angebote ihren Platz finden an der Seite der analogen Angebote. Ersetzt werden können letztere natürlich nicht, aber es muss viel mehr berücksichtigt werden, dass die heuten Jugendlichen in einer Welt leben, in der digitale Inhalte nicht mehr wegzudenken sind.

Fortnite gehört sicher nicht zu den ersten Kandidaten für eine sinnvolle Digitalisierung. Dennoch erfüllt es – derzeit – einen wichtigen Zweck, denn „meine“ Jugendlichen sind alle da, ob uns das gefällt oder nicht. Nach dem missglückten Turnier bin ich mittlerweile regelmäßig, manchmal tagelang hintereinander, online, auch im Fortnite-Sprachchat. Das eigentliche Spiel ist dann Nebensache. Wir quatschen, lachen, diskutieren, es ist so etwas wie ein virtueller Treffpunkt, manchmal fast wie der Tresen in der Imme. Nur dass man anstelle von Monopoly eben Battle Royal spielt. Das kann kein Dauerzustand sein, aber der Abbau von Berührungsängsten mit der digitalen Lebenswelt der Jugendlichen sollte weiterhin auf unserer Agenda stehen.

Natürlich befinden wir uns derzeit in einer besonderen Situation. Den Schwung, den wir momentan verspüren, sollten wir mitnehmen in die Zeit danach, neue Angebote entwickeln und auch neue Tools. Über die Möglichkeiten zur Beteiligung von Kindern und Jugendlichen habe ich in den letzten sechs Wochen mehr gelernt als in den sechs Jahren zuvor – und ich hielt mich schon für sehr aufgeschlossen in Bezug auf digitale Medien. Aus dem Chaos, das derzeit herrscht und sinnbildlich in meinem Fortnite-Chat explodierte, entsteht vielleicht eine positivere Grundhaltung gegenüber digitalen Möglichkeiten in der Jugendarbeit.

Jörg Backes
Projektleiter Kinder- und Jugendhaus Immenweg