Es ist Sonntagmorgen. Ich wache mit dem Wissen auf, dass ich den heutigen Tag alleine verbringen werde. Die Kinder leben nicht mehr im Haus und mein Mann hat angekündigt, dass er den ganzen Sonntag mit Hockeyspielen zu tun hat. Nach dem Frühstück macht er sich auf den Weg. Ich genieße die Ruhe und das Gefühl, heute meinem eigenen Rhythmus folgen zu können. Ich weiß, dass ich alleine bin und fühle mich doch nicht einsam. Ein Zeitsprung in die Vergangenheit: Es war Sonntagmorgen. Ich wachte mit dem Wissen auf, dass ich den heutigen Tag allein verbringen würde. Ich lebte allein in meiner ersten eigenen Wohnung und war erst vor kurzer Zeit zuhause ausgezogen. Meine Familie lebte 600 km entfernt. Ich wusste, dass sie gemeinsam frühstücken würden, den Tag gemeinsam gestalten. Ich war allein und fühlte mich einsam. Es ist ein sehr feiner Unterschied, allein zu sein, ohne sich einsam zu fühlen, oder sich allein und einsam zu fühlen.

Alleinsein ist erst einmal eine Tatsache. Ich bin allein in einem Raum, mache allein eine Reise, gehe allein ins Kino. Alleinsein bedeutet vor allem, dass ich selbstbestimmt etwas für mich tue oder erlebe. Niemand nimmt daran teil, solange ich diesen Zustand beibehalten will. Alleinsein ist meist eine bewusste Entscheidung. Sie kann sich natürlich auch ergeben, sofern ich niemanden finde, der etwas gemeinsam mit mir machen möchte. Alleinsein kann ich beenden, sofern ich kommunikativ genug bin und mir für meine Vorhaben Begleitung und Gesellschaft suche.

Einsam sein ist ein inneres Gefühl, das aufkommt, wenn ich mich in meiner Lebenssituation oder einem Umstand verlassen fühle. Es ist eine Empfindung, die mich Kraft kostet und die ich nur beenden kann, wenn ich sie mir bewusst mache, gesund bin und Energie aufbringen kann, etwas zu ändern. Einsamkeit ist unabhängig davon, ob es andere Menschen um mich herum gibt. Ich kann in einer Partnerschaft einsam sein, in einer Gruppe oder einer belebten Stadt. Wer einsam ist, fühlt sich isoliert, unbeachtet, unverstanden, nicht gebraucht. Es fehlt ein Partner, der Bestätigung und Verständnis gibt.

Beide Zustände sind für Menschen, die über geistige Gesundheit verfügen, gut zu handhaben. Hat die Seele oder das Empfinden jedoch eine Schwäche, ist es ohne Hilfe schwer, herauszukommen und kann in ernsten Fällen selbst körperliche Krankheiten nach sich ziehen. Nicht umsonst wurde und wird Isolation in allen Gesellschaften als Bestrafung angewendet. Der Ausschluss aus einer Gemeinschaft war in sehr frühen Zeiten lebensgefährdend. Isolationshaft soll Häftlinge brechen und gefügig machen. Mobbing ist eine Art, Menschen zu isolieren, zu verunsichern und zu brechen.

Jeder Mensch erlebt beide Zustände in verschiedenen Lebensabschnitten. Beispielsweise Kinder, die sich einer Gruppe nicht zugehörig fühlen. Jugendliche, die die Ursprungsfamilie verlassen und ihr Leben selbst in die Hand nehmen müssen. Ehefrauen und Männer, die sich in der Partnerschaft nicht verstanden fühlen. ArbeitnehmerInnen, die aus beruflichen Gründen in eine andere Stadt umziehen müssen. Angestellte, die sich überfordert fühlen, sich aber nicht trauen, darüber zu sprechen. Menschen, gleich welchen Alters, die verlassen werden. Mütter, deren Kinder ihre Obhut verlassen. Ältere Menschen, deren Partner und Freunde das Zeitliche segnen. Niemand ist davor sicher, eine Situation zu erleben, die den sozialen Halt empfindlich stört und das natürliche Gleichgewicht durcheinander bringt.

Es ist unerheblich, ob man auf einem Dorf oder in einer Großstadt wohnt. Wenn der Zugang oder Kontakt zu anderen Menschen nicht gegeben ist, entsteht Einsamkeit. Spürt man sie, ist es wichtig, die Warnsignale zu verstehen und Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Wohl dem, der kontaktfreudig ist. In den Städten sind es die sozialen und nachbarschaftlichen Vereine und Träger, die sich diesem Problem annehmen und es als vornehmlich Aufgabe verstehen, Menschen zusammen zu bringen, Interessen zu bündeln und Hilfe zur Selbsthilfe fördern. Das geschieht durch offene Kinder- und Jugendhäuser, durch Nachbarschaftshäuser, Gruppen, Kurse und Stadtteilfeste. Alle diese nachbarschaftlichen Vereine und Träger verfügen über weit gefächerte Netzwerke, so dass generationsübergreifend Hilfestellungen und Beratungen angeboten werden können. So wie der Mensch ein soziales Wesen ist, greift die soziale Arbeit alle Aspekte auf, die Menschen dazu bringt eigenständig in Kontakt zu treten und Gemeinschaft zu fördern. Soziale Arbeit muss sich immer wieder der Anonymität der Großstädte, dem demographischen Wandel, der Digitalisierung aller Kommunikationskanäle und vielen anderen gesellschaftlichen Aspekten anpassen. So ist soziale Arbeit moderner denn je mit einem verlässlichen Auftrag gegen Isolation und Vereinsamung.

Die andere Seite der Medaille sollte auch betrachtet werden: Manche Menschen suchen geradezu nach Einsamkeit, die ihnen innere Ruhe, Gleichgewicht und Entspannung verspricht. So verstanden stehen sich Einsamkeit und Alleinsein recht nah. Gerade in der Reizüberflutung der heutigen Zeit sind ruhige Momente, Besinnung und Zurückgezogenheit recht selten besetzt. Nicht umsonst haben Esoterik, Meditation und Wellness Hochkonjunktur. Der Mensch sehnt sich nach innerer Ausgeglichenheit. Sofern gesund, kann man Alleinsein sehr genießen. Der eine sucht seine Ruhe im Sport, der andere beim Wandern, wieder andere in kreativen Handlungen. Sinn dessen ist, immer das innere Gleichgewicht zu halten. Dennoch ist es ratsam, sich bewusst zu machen, wie schnell sich das ändern kann um dann, wenn das Gefühl der Einsamkeit auftaucht, Gegenmaßnahmen zu treffen.

Im heutigen Leben gewinnt die Empathie in Bezug auf Vereinsamung immer mehr an Bedeutung. Feste soziale Strukturen, wie die Familie oder der Clans, wie immer Zusammenschlüssen von Menschen heißen, lösen sich scheinbar unaufhaltsam auf. Die Ehe ist kein erforderliches Mittel gesellschaftlicher Anerkennung mehr. So ist es immer wichtig, einen Blick für Menschen um uns herum zu behalten. Ob es der Obdachlose in Wintertagen ist, geflüchtete Menschen in Unterkünften, die alleinerziehende Nachbarin … es kann uns alle treffen. Stark ist der Mensch, dem klar ist, das er tatsächlich ein eigenverantwortliches Individuum ist, das sich einem Kontext anpassen kann, nie aber sich selber dabei aufgibt. Wer es schafft, sich selber auszuhalten, sich – selbst bewusst zu sein – ist der eigentliche Meister seiner Zeit, seiner Gesellschaft und Umgebung.

Irgendwann wird wieder ein Sonntag- morgen kommen. Dann werden mein Mann oder ich allein den Tag verbringen, weil der andere endgültig gegangen ist. Ob wir uns dann einsam fühlen oder bewusst ein bis dahin gemeinsam gelebtes Leben zu schätzen wissen, wird die Zeit zeigen, sofern wir gesund bleiben. Vielleicht laden wir an genau diesem Sonntagmorgen einfach die Kinder zu uns ein. Wir haben es in der Hand.

Anna Schmidt

Ein Beitrag aus dem Magazin „Im Mittelpunkt“ 1/2018 mit dem Leitthema „Alleinsein“
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