Einmal im Jahr, wenn große Schulranzen auf zwei Beinen an mir vorbeilaufen, stelle ich mir die Frage, warum Familien den ersten Schultag des Kindes als besonderes Ereignis feiern. Der erste Schultag ist ein bedeutender Entwicklungsschritt im Leben des Kindes, das mit diesem Tag kein Kleinkind mehr ist. Verbunden damit ist allerdings eine Umstellung des gesamten Familienlebens allein durch die Bindung an die Schulferien. Es zeigt sich erst mit den Schuljahren, ob es leichte Jahre werden oder eben hart durchlebte Leidensepochen von Sommerferien zu Sommerferien. Manche Kinder fügen sich leicht ins Schulsystem, andere wiederum brauchen Zeit und enorme Unterstützung, um Fuß zu fassen und dem Lernen einen Gewinn abzutrotzen. Lernen ist allerdings viel mehr und hört nicht am Schultor auf. Lernen beginnt im Mutterleib und ich wage zu behaupten, dass es erst in unseren letzten Lebenstagen beendet wird – sofern wir denn wollen.

Was Lernen tatsächlich für eine Bedeutung in unserem Leben hat, habe ich eigentlich erst wahrgenommen, als ich Mutter wurde. Für mich selber (die Pubertät ausgenommen) war Lernen immer eine sehr spannende Sache und ein Gewinn. Erst als Mutter habe ich gemerkt, dass nicht jeder gleich lernt und die Art zu lernen eine sehr individuelle Sache ist. Meine ältere Tochter hat mir relativ früh in ihrem ersten Schuljahr erklärt, dass die Hausaufgaben ihre Sache sind. Die Lehrerin hätte gesagt, was sie nicht selber zuhause begreift, müsse sie in der Schule erfragen. So haben wir es über die Jahre gehalten. Die einzige Ausnahme waren die Latein Vokabeln, die wir bis zur Abiturprüfung abfragen durften. Hätte ich die Erfahrung mit meiner älteren Tochter nicht gehabt, hätten mich bei der zweiten Tochter größte Selbstzweifel geplagt. Bei diesem Kind war alles anders. Allein das Stillsitzen im Unterricht war für sie ein Problem, Heftführung nach Vorstellungen der Lehrkräfte unmöglich und Bücher schleppte sie jahrelang ungenutzt von der Schule nach Hause und zurück. Sie lernte auch – aber anders. 

Die Bärenaufgabe für uns Eltern bestand bei der jüngeren Tochter darin zu begreifen, wie sie lernt. Wir mussten bei Lehrkräften immer wieder um Verständnis und Unterstützung bitten und andere Wege finden. Ein großes Glück war  es schließlich, dass sie auf eine Montessori-Gemeinschaftsschule gehen konnte. Dort wurde mehr als auf Regelschulen geschaut, zu welchen Lerntypen die SchülerInnen gehören und bestmöglich darauf eingegangen. Wir konnten auch auf dem zweiten Abiturball tanzen, aber es war ein harter Weg bis dahin. Mit dem zweiten Abitur feierten wir das Ende der Schulzeit in unserem Familienleben. Dennoch teilte ich nicht die Euphorie der Kinder, dass mit dem Lernen nun Schluss sei, stellt die Schulzeit doch einen prägnanten, aber nur einen kleinen Abschnitt in der Lernwelt eines Menschen dar. Nun stand ihnen die Berufsausbildung bevor, dies allerdings mit dem Wissen, wie sie persönlich bestmöglich lernen und begreifen.

Wir lernen, im besten Fall, immer. Das Schulwissen stellt allenfalls die Grundlage und Allgemeinbildung dar. Doch Lernen geht weit darüber hinaus und betrifft alle Lebensbereiche. Ob als Kind oder Erwachsener nutzen wir unsere Sinne, um Dinge zu erfassen, sie zu verstehen, uns zu merken und zu begreifen. Gut, wenn wir uns dabei bewusst machen, welcher unserer Sinne beim Lernen die Oberhand hat. Lernt der eine visuell, über das Auge, lernt ein anderer besser auditiv, durch Zuhören. Manche müssen im wahrsten Sinne des Wortes „be-greifen“, also motorisch aktiv sein, um zu erfassen. Der vierte Lerntyp ist kommunikativ, lernt im Gespräch mit anderen am besten. Es wäre allerdings ein Fehler, sich ausschließlich auf einen Lerntyp zu versteifen, der allenfalls Tendenzen darstellen kann. Kein Mensch stellt einen Sinn ein, um den anderen zu nutzen. Die optimale Ausnutzung aller Sinne unter Beachtung, welcher der prägnanteste ist, verspricht den größten Lernerfolg.

Neben den Lerntypen gibt es viele andere Faktoren, die uns das Lernen erleichtern können. Die Motivation, warum ich etwas lernen möchte oder muss, ist entscheidend. Sehe ich einen persönlichen Nutzen im Erlernten, fällt es mir wesentlich leichter, die Zeit und das Verständnis dafür aufzubringen. Ich persönlich bin das beste Beispiel dafür: Ich wollte das Abitur schaffen, weil es eben so erwartet wurde. Also versuchte ich es mit dem geringsten möglichen Aufwand. Wirkliches Interesse (außer Kunst und Geschichte) hatte ich nicht an der Allgemeinbildung, die mir in der Oberstufe präsentiert wurde. Ich hatte Erfolg damit und schaffte es. Meine Berufsausbildungen wählte ich selber nach Interesse. Hier lernte ich selbstgewählte Inhalte, die die Basis meines Berufslebens darstellen sollten. Zwei Ausbildungen schloss ich mit Bestnoten ab, ganz einfach, weil ich es wollte. Ich bin übrigens ein Mischtyp aus visuellem und motorischem Lernen. Reine Vorträge, bei denen ich zuhören muss, sind für mich eine Qual. Kann ich dabei mitschreiben, wird’s schon leichter. Am besten lerne ich, wenn ich etwas machen und sehen kann, was ich da tue. 

Neben Motivation und Interessen ist auch Druck ein Lernfaktor. Lerne ich in in vorgegebenen oder selbstgewählten Abschnitten? Wie ernst nehme ich meine Lernaufgaben? Habe ich entsprechende Unterstützung durch meine Umgebung? Habe ich ein Ziel vor Augen? Nutze ich die richtigen Hilfsmittel entsprechend meines Lerntypes? Brauche ich eine Lehrperson, die mich angeleitet lernen lässt oder bin ich eher ein Autodidakt, der sich selbst Dinge erschließt? Und – bin ich bereit, weiter zu lernen?

Wir lernen fürs Leben und mit dem Leben. Es ist bekannt, dass Embryonen im Mutterleib schon lernen, weil sich die Sinne bilden. Nicht umsonst wird Müttern empfohlen, mit dem ungeborenen Kind zu sprechen, um dieses mit ihrer Stimme vertraut zu machen. Kleinkinder lernen insbesondere durch Bewegung, Berührung und Erfahrung. Erst später kommt das Verständnis für Buchstaben und Zahlen. Die Schulzeit und Berufsausbildung
stellen wohl den offensichtlichsten Lebensabschnitt des Lernens dar, aber auch damit ist es bei weitem noch nicht getan. Schlecht beraten ist, wer sich auf Erlerntem ausruht und denkt, damit sei ausgelernt. Die Zellen im Gehirn brauchen Nahrung und wollen gefordert sein.

1987 habe ich meine zweite Berufsausbildung beendet. Ich habe in der Grafik gelernt zu einem Zeitpunkt, als es das Internet noch nicht gab und der erste Computer in unsere Werbeagentur einzog. Begriffe wie Fadenzähler, Typometer, Rapidograf sind nur noch den ganz alten Grafikern ein Begriff. Diese Arbeitsmittel werden heute nicht mehr gebraucht. Ich erlebte, wie die Digitalisierung in meinen Beruf einzog. Schriftsetzer verloren ihre Arbeitsplätze, weil moderne Technik sie ersetzte. Sie alle mussten um- und neulernen, um weiterhin ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Nach meiner Mutterschaft hatte ich Glück und bekam eine Weiterbildung angeboten. Ein Jahr konnte ich die digitale Umstellung meines Berufes an einer Medienakademie erlernen. Das war ein guter Zwischenschritt, aber auch damit war noch nicht ausgelernt. Arbeitsbedingt erschloss ich mir viele Dinge selber und mache heute beruflich etwas anderes, als ich ursprünglich gelernt hatte. Ich nutze jede Möglichkeit der Weiterbildung, von Seminaren und Workshops, und habe immer noch nicht ausgelernt.

Wir lernen immer und mit jedem Lebensabschnitt etwas Neues. Ein Paar, das die Elternschaft antritt, lernt das Leben mit ganz anderen Augen zu betrachten und Wertigkeiten neu zu setzen. Ein Mensch, der sich vom Berufsleben verabschiedet, muss lernen, wie er neue Inhalte findet und sich neu aufstellt. Die Digitalisierung fordert von jedem von uns Lernbereitschaft ab, weil sich dadurch unsere Lebensumstände massiv ändern. Wir müssen Dinge erlernen, von denen wir vor 50 Jahren noch gar nicht wussten, dass es sie einmal geben wird. Weiterbildung, Umschulung, Zusatzstudium, Onlineseminar, berufsbegleitendes Lernen sind moderne Begriffe und entsprechende Schulen und Angebote überall zu finden. Umwelt und Technik fordern von uns neues Denken, neue Berufe und die Bereitschaft, es anzunehmen. Demographischer Wandel und politische Veränderungen fordern uns heraus. Wehe dem, der sich davor verschließt und glaubt an Gewohntem festhalten zu können.

So ist es auch erwiesen, dass uns die Denkleistung bis ins hohe Alter erhalten bleibt. Der Trick dabei ist, diese genauso wie die körperliche Fitness zu trainieren. Geben wir uns dem Alterungsprozess hin und fügen uns ins Unabänderliche, haben wir auch die Konsequenz zu tragen. Spaß am Lernen hingegen belohnt uns mit geistiger Agilität und Freude, immer wieder neue Entdeckungen zu machen. Wir tun uns selber etwas Gutes an, indem wir am Leben im Alter teilhaben und neuen Dingen aufgeschlossen bleiben. Natürlich fällt das Lernen nicht mehr so leicht wie in jugendlichen Zeiten, aber gerade hier den Lerntyp beachtend, kann man großen Gewinn für sich selber erzielen. Nicht umsonst erfreuen sich Angebote für Senioren immer größerer Beliebtheit in einer immer älter werdenden Gesellschaft. Würde der Mehrwert der Wissenswelt der Älteren erkannt und genutzt, ließe sich gesellschaftlich großer Nutzen daraus ziehen.

Ich persönlich lerne gerne und bei jeder Gelegenheit, die sich mir bietet. Besonderen Spaß habe ich, wenn ich von jungen Menschen lernen darf. Beispielsweise nutzte ich lange Zeit das Bildbearbeitungsprogramm Photoshop. Mein Kind saß oft neben mir und erzählte mir ihre Geschichten. Irgendwann hatte sie etwas für die Schule zu erledigen und fragte, ob sie an meinen Computer dürfe. Ich bejahte, wurde aber nach einer Weile etwas skeptisch und schaute nach, was sie dort machte. Sie benutzte dieses Bildbearbeitungsprogramm, ohne dass ich ihr jemals eine Einführungsstunde gegeben hatte. Heute benutzt sie dort Funktionen, die ich teilweise nicht kenne und schon manche Frage konnte sie mir kompetent beantworten. Sie hatte einfach durch zusehen gelernt und mich in ihrem Wissen irgendwann überholt. Auch in anderen technischen Dingen bin ich heute diejenige, die zur Tochter geht, um sich den richtigen Ratschlag zu holen.

Eines Tages werde ich vielleicht so einen laufenden Schulranzen, den mein Enkelkind trägt, zum ersten Schultag begleiten. Vielleicht entlaste ich seine Mutter, indem ich bei den Hausaufgaben unterstütze. Ich werde entspannt beobachten, wie dieses Kind lernen wird, und neugierig sein, wie sich die Lernwelt der Kinder in Zukunft verändern wird. Ich gehöre zu den Generationen, die vollkommen analog das Lernen lernten. Wir nutzten Lexika und Bibliotheken, wenn wir Wissen über die Schulbücher hinaus brauchten. Die Vorzüge der digitalen Welt waren uns noch verschlossen. Ich werde gespannt sein, was ich von diesem Kind lernen kann oder wie es lernt. Aufzuhören mit dem Lernen kann ich mir zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorstellen. Das Schöne ist, dass alles was ich heute noch lerne, aus freiem Willen geschieht und für mich eine Bereicherung ist. Solange wir neugierig auf alles um uns herum bleiben, bleiben wir lernbereit und hoffentlich fit bis ins sehr hohe Alter!

Anna Schmidt


Ein Beitrag aus dem Magazin „Im Mittelpunkt“ 1.2019 mit dem Leitthema „Lernen – ein Leben lang“
Das ganze Magazin können Sie als eBook oder interaktives Pdf herunterladen, die gedruckte Version, einschließlich dem Einleger mit allen Veranstaltungen des SzS, finden Sie in unseren Einrichtungen.