„Kind, dafür bin ich zu alt. Das lerne ich nicht mehr.“ Diese Worte meiner Großmutter haben mich schon in meiner Kindheit in den sechziger und siebziger Jahren begleitet, wenn ich ihr meine neuesten Erkenntnisse aus der Schule erzählen oder auch nur ein neues Gesellschaftsspiel in der Familie einführen wollte. Meine Großmutter, die mit uns zusammenlebte, war im Jahr 1900 geboren worden, hatte nach neun Schuljahren mit 18 Jahren geheiratet und ihre Lebensaufgabe als Mutter und Hausfrau in einem Dorf übernommen.

Meine Großmutter wusste vieles: Sie konnte perfekt Schneidern und Handarbeiten, wusste alles über Stoffe und Textilpflege, sie kannte sich hervorragend mit Pflanzen aus, ich lernte von ihr alles über die Anlage, Pflege und den Fruchtwechsel im Selbstversorgergarten, vieles über Wildpflanzen, über die traditionelle Konservierung von Lebensmitteln, die Fleckentfernung mit Hausmitteln und sie kannte unendlich viele köstliche Rezepte – doch sie verspürte keinen Reiz sich etwas Neues anzueignen oder zu versuchen neue Entwicklungen auch nur zu verstehen. „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“, war ihr viel zitierter Spruch und die allgemeine Ansicht der damaligen Zeit. Mit fünfundsechzig, siebzig Jahren verstand sie sich als alte Frau, die allen Respekt und Achtung für ihre Lebensleistung als Hausfrau und Mutter verdiente und ein Anrecht auf jede nur denkbare Unterstützung und Fürsorge ihrer Familie hatte. Es war ihr nicht nur unmöglich, die vielen gesellschaftlichen Veränderungen um sie herum zu verstehen, sondern sie sah es als ihr Privileg, sich nicht mehr mit ihnen auseinandersetzen zu müssen, nicht mehr lernen zu müssen. Eine alte Frau hatte es „nicht mehr nötig“. Meine Großmutter war in all ihrem Denken und Handeln noch starr in den traditionellen Rollenmustern der dreißiger bis sechziger Jahre verhaftet, während um sie herum diese Rollen in unserer individualisierten Gesellschaft immer mehr und mehr an Bedeutung verloren. Als Jugendliche machte dieses Verhalten meiner einzigen Großmutter für mich das „Alter“ zu etwas sehr Beängstigendem: Es wirkte wie ein Gefängnis, wie lebendig begraben zu werden.

Etwa zur gleichen Zeit entwickelte sich in den siebziger Jahren das bildungspolitische Konzept des „Lebenslangen Lernens“, vor allem um den sich rasch verändernden beruflichen Anforderungen gerecht zu werden. Seither entstanden zahlreiche Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen. Aber längst ist offensichtlich, dass dieses Konzept nicht nur ein Nutzen für den Arbeitsmarkt bedeutet, sondern auch gesellschaftliche Teilhabe, eine Steigerung von Lebensqualität und mentale Gesundheit bis ins hohe Alter fördert. Während vor 30 Jahren noch als Common Sense galt, dass Menschen bis auf einzelnen Ausnahmen im Alter nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt lernfähig sind, zeigen neue gehirnphysiologische Studien der letzten fünfzehn Jahre, dass bei gesunden Menschen lediglich die Verarbeitungsgeschwindigkeit unseres Gehirns im Alter langsamer wird, aber nicht generell die Leistungsfähigkeit. Ältere brauchen länger, um neue Probleme zu lösen oder sich in neuen Situationen zurechtzufinden, doch wenn sie es wollen und üben, können sie noch lernen, in fast allen Bereichen.

Heute ist das lebenslange Lernen zu einem geflügelten Wort geworden und weder mit einem festgelegten Alter, noch mit einer starren Rolle verbunden. Viele haben keine geraden Biographien mehr, lernen mehrere Berufe. Wir müssen nicht nur lernen, sondern wir haben auch die Chance, ein oder mehrmals im Leben neu anzufangen und neue Wege zu beschreiten – und das auch im Alter. Heute haben 41% der über Fünfundsechzigjährigen ein Handy und 55% nutzen den Computer und das Internet, obwohl sie nicht zu den Digital Natives gehören. Die Angebote für das Seniorenstudium wachsen jährlich, Sprach- und Bildungsreisen für Senioren boomen.

Im Gegensatz zu meiner Großmutter bin ich mit der Notwendigkeit des „lebenslangen Lernens“ aufgewachsen. Lernen ist keine lästige Zumutung, sondern eine Selbstverständlichkeit. Sicher, manches Lernen macht mir nicht so viel Spaß und ist mühsam, wie z.B. neue Computerprogramme oder Apps, doch auch das lohnt sich, denn es eröffnen sich neue Möglichkeiten. Das Berufs- und das Privatleben werden so spannend und ereignisreich. Seit die Kinder groß sind und mir wieder etwas mehr Zeit zur Verfügung steht, habe ich sogar damit begonnen, mir einen Kindheitstraum zu erfüllen und ich lerne seit einem halben Jahr Cello zu spielen. Das geht nicht schnell voran, aber es geht, auch mit fünfundfünfzig Jahren. Für meine Großmutter, aber auch noch für meine Mutter wäre das undenkbar gewesen.

Auch bei meiner Arbeit im Integrationsbüro wurde ich täglich mit dem Thema des lebenslangen Lernens konfrontiert. Von den geflüchteten Migranten wird viel verlangt, Integration setzt umfangreiches Lernen voraus: Die deutsche, wie auch die Behördensprache, unsere gesellschaftlichen Regeln und Strukturen, unsere Umgangsformen und Kultur, Fachwissen für Schule, Ausbildung und Arbeit sollen gelernt werden. Manche lernen erstaunlich schnell: Nach nur 1 1/2 Jahren sprechen sie sehr gut Deutsch, haben einen Beruf, einen Ausbildungs- oder Studienplatz und brauchen unsere Unterstützung (fast) gar nicht mehr. Oft sind dies junge Menschen bis Anfang dreißig, doch es gelingt auch Älteren. Die meisten benötigen zwei bis drei Jahre, bis sie ausreichend gut die deutsche Sprache beherrschen, um eine Ausbildung oder einen Beruf beginnen zu können. Doch einige wenige tun sich auffallend schwer und benötigen auch nach drei Jahren noch Sprachmittler, um sich zu verständigen. Zu dieser Gruppe gehören nicht nur ältere Frauen und Männer, die wie meine Großmutter mit dem Selbstverständnis leben, von der Familie versorgt zu werden und nichts mehr lernen zu müssen, sondern auch junge Menschen, wie die achtzehnjährige Raja aus Afghanistan, die als junge minderjährige Mutter seit zwei Jahren hier zur Schule geht, der achtundzwanzigjährige Majid aus dem Irak, mit einem Master in Buchhaltung oder der syrische Anwalt Mohammad.

Raja lebt im betreuten Jugendwohnen für junge Mütter wie auch ihr junger Ehemann. Einen Schulabschluss hat sie hier bisher nicht geschafft, ihr Deutsch ist zu schlecht, obwohl sie mit anderen jungen deutschen Müttern zusammenlebt. Rajas einziger Wunsch ist es, das betreute Jugendwohnen zu verlassen und mit ihrem Mann zusammenzuziehen, damit sie ihre Rolle als Hausfrau und Mutter erfüllen kann, wie sie es in Afghanistan getan hätte. Sie hat noch engen telefonischen Kontakt mit ihrer Familie in Afghanistan, die von ihr ein angemessenes Leben als Ehefrau erwarten. Ein Leben und Beruf, wie es sich ihre deutschen Mitbewohnerinnen wünschen, ist für sie weder erstrebenswert noch überhaupt denkbar, es würde sie in einen Konflikt mit der Rolle der afghanischen Ehefrau bringen und sie überfordern. Lebenslanges Lernen gehört nicht zu der Rolle, mit der sie sich identifiziert.

Majid dagegen war Buchhalter in Staatsdiensten im Irak, er war ein angesehener Mann mit gutem Einkommen. Das gilt noch viel mehr für den syrischen Anwalt Mohammad. Während man meinen sollte, dass sie lernerfahren sind und verhältnismäßig schnell mit der Sprache und unserer Kultur zurechtkommen sollten, verhindert gerade ihre gut situierte Stellung in ihrer Heimat das Lernen hier in Deutschland. Sie kommen aus Gesellschaften, die zwar mit moderner Technik umgehen und westliche Filme sehen, aber traditionellen Rollen und Verhaltensmustern verpflichtet sind. Diese bestimmen ihr Selbstbild. Die egalitäre Lernsituation im Deutschkurs, die alle auf die gleiche Stufe stellt, erleben sie als Statusverlust und Demütigung, der ihre Identität in Frage stellt. In ihrem arabischen Familien- und Freundeskreis sind sie dagegen noch als Buchhalter und Anwalt sehr angesehen. Beide wollen arbeiten, fragen im Büro immer wieder nach ihren beruflichen Möglichkeiten, aber selbst nach dem erfolgreichen Abschluss der Deutschkurse ist in ihren Berufen keine statusgleiche Beschäftigung in Deutschland möglich. Da sie keine Perspektive haben, in Deutschland ihr früheres Ansehen wieder zu erreichen, sehen sie keinen Vorteil darin mehr als das Nötigste der deutschen Sprache zu lernen. Und so entsteht die für uns fremde Situation, dass Nichtlernen aus ihrem
Rollenverständnis einen, wenn auch kurzfristigen, Vorteil bringt: Sie vermeiden eine für sie demütigende Situation. Sie hängen noch zu sehr an ihren früheren gesellschaftlichen Rollen, um sich auf unser individuelles Konzept des lebenslangen Lernens einlassen zu können und die Chancen zu sehen, die es ihnen bietet. Sie leiden unter ihrer Situation und sind wie gelähmt. Ihre Frauen sprechen mittlerweile viel besser Deutsch als sie.

Alle drei sind keine Integrationsverweigerer, die die deutsche Gesellschaft ablehnen – sie haben sogar einzelne private deutsche Kontakte, aber sie sind in den traditionellen Rollen ihrer Herkunftsgesellschaften verhaftet, denen unser Modell des lebenslangen Lernens fremd ist. Und diese bestimmen ihr Selbstbild. Die Rollen gaben ihnen Sicherheit und Ansehen. Diese Einbuße erleben sie als Identitätsverlust, der sie erst einmal daran hindert, sich auf die Lernangebote unserer Gesellschaft einzulassen. Das ist dem Erleben meiner Großmutter in den siebziger Jahren nicht unähnlich. Auch sie fühlte sich manchmal wie in einem fremden Land, in dem sie sich an ihre Rolle als „alte Frau“ klammerte, statt sich wie andere ihrer Zeitgenossinnen auf das Lernen einzulassen und das Alte loszulassen.

Das Phänomen des traditionellen Rollenverständnisses bei einem kleinen Teil der Migranten aus traditionellen Gesellschaften mit Fluchthintergrund als Integrationshemmnis wird schon seit über zehn Jahren beobachtet und diskutiert. Doch es gibt keine einfachen Lösungsansätze, außer der Zeit und den Kontakt mit Personen mit einem ähnlichen biographischen Hintergrund, die diesen Schritt in unsere Gesellschaft bereits erfolgreich gegangen sind. Die zahlreichen Migrantenorganisationen und Vereine sind dabei eine wertvolle Hilfe.

Sabine Schwingeler


Ein Beitrag aus dem Magazin „Im Mittelpunkt“ 1.2019 mit dem Leitthema „Lernen – ein Leben lang“
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