Samstagvormittag: Mit dem Einkauf auf dem Markt und dem gemütlichen Frühstück danach beginnt für mich das Wochenende. Es gibt keine Arbeit und auch keine alltäglichen Verpflichtungen mehr, seit die Kinder groß sind. Gekocht wird nach Lust und Laune, es ist Zeit zum Schwimmen, Lesen, Nähen, Musik machen, Zeit für Freunde und Familie, für Ausflüge und kleine eigene Projekte. Solche Wochenenden und die Urlaubszeiten sind meine Freizeit, eine kostbare, selbstbestimmte Zeit.

Freizeit ist ein Menschenrecht. § 24 beschreibt, dass jeder Mensch Anspruch auf Erholung und Freizeit sowie auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und auf periodischen, bezahlten Urlaub hat. Vor fast zweihundert Jahren prägte der Reformpädagoge Fröbel den Begriff für seine Schützlinge als die von der Arbeit freigegebene Zeit, die sie für eigene Interessen und Erholung nutzen durften und der Duden kennt seit 1929 Jahren das Wort Freizeit als Zeit, die frei von Arbeit ist.

Doch diese formalen, auf den ökonomischen Bereich reduzierten Definitionen erzeugen bei mir schon beim ersten Lesen auch Widerstand: Nicht Arbeiten zu müssen, ist zwar eine Voraussetzung, aber das Gefühl der Freizeit beginnt für mich erst dann, wenn ich keine Verpflichtungen oder sonstige notwendige Aufgaben habe, wenn ich mich „frei“ fühlen kann. Es ist das subjektiv empfundene Gefühl der Selbstbestimmung: Nicht nur frei von Arbeit, Notwendigkeiten, Verpflichtung und Verantwortung zu sein, sondern auch frei, etwas selbstbestimmt zu tun.

Unsere westlichen Gesellschaften, die dieses Grundrecht im Gegensatz zu vielen Ländern der Welt sehr großzügig garantieren und unser Wohlstand bieten endlos viele Möglichkeiten unsere Freizeit zu gestalten. Es ist eine riesige Freizeitindustrie entstanden. Doch ist dieses Gestalten nicht ganz so einfach, wie es bei der riesigen Menge der Angebote den Anschein hat.

Heute fällt es mir nicht schwer, die Zeit mit Aktivitäten zu füllen, die ich als bereichernd erlebe und die Wochenenden oder der Urlaub erscheinen mir oft zu kurz. Doch ich kann mich noch gut daran erinnern, dass es mir nicht immer so ging. Als Kind und Jugendliche hatte ich regelmäßig mit der Langeweile zu kämpfen, wenn meine Freunde keine Zeit hatten und ich nichts mehr mit meiner vielen freien Zeit anzufangen wusste. Ich musste erst lernen, sie für mich sinnvoll zu füllen.

Und als Studentin war es oft andersherum: Ich hatte zwar formal Semesterferien, doch die waren keine einfache Freizeit mehr: Es galt Hausarbeiten zu schreiben, für Klausuren zu lernen und immer standen noch ungelesenen Bücher im Regal, die sich nur für kurze Zeit vergessen und das Gefühl der Freiheit aufkommen ließen. Trotz Semesterferien musste ich lernen, Freizeit einzuplanen, sie zuzulassen, obwohl noch viele Verpflichtungen warteten. Und ich musste lernen, sie zu gestalten, damit sie nicht einfach verflog und das schale Gefühl der Zeitverschwendung zurückblieb.

Dann in der frühen Elternzeit mit zwei Kleinkindern wurde Freizeit ein rares Gut: es gab nur wenige freie Minuten, die nicht mit Haushalt, Kinder oder Job gefüllt waren und noch weniger, in denen nicht die Übermüdung und Erschöpfung jede freie Minute lähmte und ein Gefühl der Selbstbestimmung und Freiheit gar nicht erst aufkommen ließ. Um Freizeit musste ich richtig kämpfen: gegen die Müdigkeit, gegen die vollen Terminkalender des Partners und der Freundinnen, gegen das schlechte Gewissen, die teure Babysitterin zu rufen und gegen das Monster „Kleinkindhaushalt“, dem wie in der griechischen Sage von Herkules und Hydra ständig neue Köpfe nachwuchsen, wenn einer abgeschlagen wurde.

Organisation, Struktur und aktive Gestaltung mit dem Wissen, was meine Bedürfnisse sind, waren im Umgang mit Freizeit für mich wichtige Errungenschaften und sind auch heute noch eine Voraussetzung, damit meine freie Zeit vom Beruf zu mehr als reiner Erholungszeit, zu gefühlter Freizeit werden kann.

Doch Freizeit hat auch eine Schattenseite, wenn es sie im Übermaß gibt: Seit den 70er Jahren gibt es Studien, die zeigen, dass zu viel freie Zeit durch Arbeitslosigkeit oder Ruhestand zu Stress, erhöhter Krankheitsanfälligkeit und Depressionen führen können, wenn die Menschen nicht wissen, wie sie sinnvoll gefüllt werden kann. Und diese Folgen führen dann in einen Teufelskreis aus Passivität und Lähmung, der nur noch mit der Hilfe anderer zu durchbrechen ist. Freizeit hat für diese Menschen nichts mehr mit Freiheit zu tun, sondern wird zum Gefängnis, in dem auch die wenigen Chancen, die ihnen das Leben dann noch bietet, nicht mehr genutzt werden können.

Auch viele Geflüchtete haben seit ihrer Ankunft in Deutschland viel freie Zeit und stehen in dieser Gefahr: Sie besuchen Sprachkurse für vier Stunden am Tag, die restliche Zeit ist „frei“. Arbeiten dürfen sie während des Integrationskurses nur maximal zwei Stunden am Tag. Im Integrationsbüro unterstützen wir sie bei der Suche nach Freizeitangeboten: Sportvereine, Bildung-und-Teilhabe-Angebote für Kinder und Jugendliche, Sprach- und Begegnungs-Cafés, Handarbeitstreffen. Wir geben Tipps zu günstigen Kulturangeboten und kostenfreien Badestränden, möglichen Grillplätzen, … Berlin bietet viele Möglichkeiten, auch mit einem kleinen Geldbeutel die Freizeit zu gestalten.

Aber vieles, was die notwendige Rahmenbedingungen für eine gelungene Gestaltung von Freizeit bildet, können wir nicht vermitteln: Geborgenheit durch die Familie, die in der Heimat geblieben ist oder neue Freunde, eine eigene Wohnung, um die Freizeit auch in Privatsphäre verbringen zu können, ein Leben ohne die Folgen der Traumata von Krieg, Folter, Gefängnis oder der Flucht, sichere Perspektiven auf einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz, ein Leben ohne Unsicherheit und Angst vor der Zukunft.

Gerade junge Erwachsene, die alleine nach Deutschland geflohen sind und traumatische Erlebnisse durch Flucht, Folter, Gefängnis oder Krieg verarbeiten müssen, fallen hier durch ein Raster. Während minderjährige Geflüchtete noch in betreuten Einrichtungen des Jugendamtes aufgefangen werden und besondere Unterstützung erhalten, sind die wenige Monate älteren jungen Erwachsenen auf sich gestellt. Wie alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen müssen sie noch lernen, mit ihrer freien Zeit umzugehen, doch sind ihre Rahmenbedingungen ungleich schwieriger und sie haben kein Netz, das sie hier in Deutschland auffängt.

Im Winter 2015/2016 habe ich Orientierungskurse für Deutsch als Fremdsprache unterrichtet und einige dieser jungen alleine geflohenen Menschen kennengelernt: Mohamed und Fayad aus Syrien, Hagos aus Eritrea. Sie alle waren damals zwischen 19 und 22 Jahre alt, waren hoch motiviert Deutsch zu lernen und hatten Pläne für ein Studium, eine Ausbildung oder wollten den gelernten Beruf als Tischler ausüben. Eineinhalb Jahre mussten sie in einer Notunterkunft, einer Sporthalle ohne Privatsphäre leben, bevor sie in eine Gemeinschaftsunterkunft ziehen konnten, in der sie sich auch jetzt noch ein Zimmer mit einer zweiten Person teilen müssen.

Alle hatten sehr viel Freizeit im ökonomischen Sinn: keine Arbeit, ein bis zweimal im Monat Termine beim Lageso, nach eineinhalb Monaten den ersten Deutschkurs halbtags. Nicht einmal um das Essen mussten, bzw. durften sie sich kümmern, es wurde gestellt. Doch diese viele freie Zeit war geprägt von großer Unsicherheit und bestand zu einem größten Teil aus Warten: Warten in den langen Schlangen vor dem Lageso, Warten auf den Termin der Anhörung, Warten auf die Entscheidung über den Asyl-Antrag, die 2016 neun bis zwölf Monate dauern konnte, Warten auf die Zulassung zum Integrationskurs, Warten auf den Auszug aus der Turnhalle, …

In der ersten Zeit fuhren sie manchmal in die Stadt, spielten Fußball und lernten intensiv Deutsch – doch bald fehlten sie immer häufiger im Deutschkurs, kamen immer schlechter mit. Sie konnten nachts nicht mehr schlafen und so versuchten sie es am Tag. Sie hatten Kopfschmerzen, verbrachten ganze Tage in ihren Stockbetten und waren nicht mehr in der Lage, mit ihrer vielen freien Zeit umzugehen. Sie konnten sie nicht mehr wie in ihrer Heimat mit Familie und Freunden verbringen, es fehlten die für sie wichtigen Menschen und der Deutschkurs alleine war zu wenig Struktur, um ihnen Halt geben zu können. Fayad hat in dieser Zeit bei einem Angriff seinen Vater verloren, Hagos bekam keine Nachrichten mehr von seinem Bruder, der auf der Flucht nach Europa war und Mohammed fühlte sich verzweifelt alleine und einsam, ein Gefühl, dass keine neuen Freunde auffangen konnten.

Nach der Hälfte des Deutschkurses kamen sie überhaupt nicht mehr, genau die drei, die am Anfang zu den Guten und Chancenreichen zu gehören schienen. Seit gut 1 ½ Jahren arbeite ich nun im Integrationsbüro und höre noch sporadisch von Ihnen: Sie leben noch immer in der Gemeinschaftsunterkunft, haben es nicht geschafft, ihrem Leben Struktur, und Sinn zu geben. Fayad geht nur wenig aus seinem Zimmer, hat keine Freunde und er soll Drogen nehmen, Hagos und Mohammed sprechen noch immer sehr schlecht Deutsch, besuchen noch immer sporadisch einen Sprachkurs und haben keine Träume vom Studium oder einer Ausbildung mehr. Sie hängen nur in ihrer Unterkunft herum. Es geht ihnen wie den vielen Langzeitarbeitsarbeitslosen, die in die Depression abdriften oder sich mit Drogen betäuben. Sie können weder die freie Zeit nutzen, noch die Verpflichtungen des Jobcenters zu Sprachkursen oder Maßnahmen erfüllen, selbst wenn ihnen Leistungskürzungen drohen. Helfen könnte ihnen nur noch professionelle Unterstützung und ich hoffe sehr, dass sie solche Unterstützungen irgendwann annehmen werden, um wieder das Leben und den Umgang mit der freien Zeit zu lernen.

In der Öffentlichkeit werden junge Männer wie Fayad, Mohammed und Hagos entsprechend dem oft schon üblichen populistischen Sprachgebrauch häufig als „Sozialschmarotzer“ bezeichnet, ohne zu sehen, dass sie an den gleichen strukturellen Gegebenheiten scheitern, wie viele deutsche Rentner und Arbeitslose: an strukturloser freier Zeit, verbunden mit Einsamkeit und schwierigen Rahmenbedingungen.

Dass diese strukturellen Rahmenbedingungen auch anders sein können, zeigen Integrationsmodelle aus Schweden: In einigen Gemeinden werden Sprachkurse für Geflüchtete von Anfang an mit parallel laufenden halbtägigen Praktika verknüpft, der C1-Sprachkurs sogar mit einem befristeten Teilzeit-Job am Nachmittag. Es bleibt so im Alltag nur wenig Freizeit übrig. Dieses Leben kann zwar auch keine fehlende Familie ersetzen, Traumafolgen ungeschehen machen oder eine Garantie liefern, mit dem Leben zurechtzukommen, doch es bietet Struktur, Alltagskontakte und Perspektiven, die es hilft, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden. Die Freizeit dort ist eine freie Zeit vom Lernen, Arbeiten und anderen Verpflichtungen und bietet so auch die Chance, zu einer subjektiv empfundenen Freizeit und Freiheit zu werden, die das Leben bereichert. Ein Ansatz, den ich mir auch für Deutschland wünschen würde. Er könnte vielen mit schwierigen Voraussetzungen und Lebensbedingungen helfen, Depressionen zu verhindern, hier in Deutschland anzukommen und ihre Potenziale zu nutzen –  und vielleicht sogar Leben retten.

Sabine Schwingeler

Ein Beitrag aus dem Magazin „Im Mittelpunkt“ 2.2018 mit dem Leitthema „Frei-Zeit“
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