Vor einiger Zeit habe ich in der S-Bahn zwei Frauen zugehört, die sich über die Kinder einer nicht anwesenden Bekannten unterhielten.  Es ging darum, dass besagte Bekannte mit ihrer Familie nach Dubai ziehen wollte, da ihr Mann dort einen Job angeboten bekommen hatte. Die beiden Damen echauffierten sich, wie man so etwas kleinen Kindern antun könne, sie aus ihrer Umgebung zu reißen und zu „entwurzeln“! 

Noch nie zuvor habe ich mich in eine Unterhaltung zweier Fremder eingemischt, aber bei dieser Gelegenheit konnte ich mich nicht zurückhalten und musste meinen Senf dazu geben. Ich bin nämlich selber „Nomadenkind“: meine Mutter ist Entwicklungshelferin und ich bin in vier Ländern auf drei Kontinenten groß  geworden.  Dass meine Mutter mir das „angetan“ hat, zähle ich zu den größten Geschenken, die sie mir machen konnte. Der Erfahrungsschatz, den dieses Leben mit sich gebracht hat ist unbezahlbar und ich würde diese Erfahrungen für nichts auf der Welt eintauschen.

Ich bin in Deutschland geboren. Als ich sechs Monate alt war, sind meine Eltern mit mir in das Heimatland meines Vaters gezogen, nach Brasilien. Dort habe ich die längste Zeit meiner Kindheit/Jugend verbracht: ganze acht Jahre.  Aus Rio zogen wir nach Berlin, wo ich den Großteil meiner Grundschulzeit verbracht habe. Als ich zwölf Jahre alt war, sind wir nach Tansania, Ostafrika gezogen. Ein paar Monate nach meinem 15. Geburtstag hieß es dann auf nach Nicaragua, Mittelamerika, wo ich die Amerikanische Schule erfolgreich beendet habe, um mit 18 Jahren alleine nach Hamburg zu ziehen und am dortigen Studienkolleg  mein Fachabitur zu machen.

Natürlich war dieser Wechsel nicht immer einfach, denn Abschied ist das einzige, was mit Übung nicht leichter wird. Und Abschiede habe ich viele erlebt: von Menschen, die ich lieb gewonnen hatte; von Orten, die ich zu Hause nannte; von Haustieren, die mir ans Herz gewachsen waren… 

Jeder Umzug bedeutete auch eine komplett neue und fremde Umgebung, neue kulturelle Gegebenheiten,  andere Sprachen, verschiedene Schulsysteme, an die ich mich gewöhnen und anpassen musste. 

Allerdings haben mich diese Aspekte auch zu dem gemacht, was ich heute bin.  Sie haben mich gestärkt und mich gelehrt,  dass nichts im Leben permanent ist: alles verändert sich und alles geht mal vorbei, sowohl die schönen Zeiten, als auch die nicht so schönen. Ich habe gelernt, flexibel auf meine Umgebung zu reagieren und mir selbst dabei immer treu zu bleiben.

Ich habe gelernt,  dass man in jeder Ecke der Welt, in jeder Menschengruppe – ganz egal welcher sozialen, kulturellen oder religiösen Herkunft – Freunde finden kann. Ich kann wahrheitsgemäß behaupten, dass ich auf jedem Kontinent der Erde (OK, Antarktis ausgenommen) Freunde habe, die sich jederzeit über einen Besuch von mir freuen und mir einen Schlafplatz anbieten würden.  Und wahre Freundschaften halten jahrelange Trennungen über Ozeane hinweg locker aus.  Erst Ende letzten Jahres habe ich eine gute Freundin nach über zehn Jahren wieder gesehen. Es war so, als ob wir nie von einander getrennt gewesen wären. 

Ich bin offen für andere Kulturen, für Menschen die anders denken als ich, denn ich weiß, dass sie mein Leben bereichern können. Als Kind stellt man diese Unterschiede nicht in Frage, man akzeptiert sie einfach. Und wer in der Kindheit/Jugend diese Unterschiede zu schätzen lernt, kann auch im Erwachsenenleben davon nur profitieren. 

Ein weiterer, praktischer Erfahrungsschatz, den das Aufwachsen als „Nomadenkind“ mit sich bringt, sind die Sprachkenntnisse. Kinder lernen neue Sprachen recht schnell und einfach. Ich spreche vier Sprachen fließend und kann mich in zwei weiteren Sprachen einigermaßen verständigen. Dass erleichtert den Kontakt zu anderen Menschen immens, ob im Inland oder Ausland.

Außerdem hatte ich mit 18 Jahren schon mehr unserer wunderschönen Welt gesehen, als die meisten in ihrem ganzen Leben zu sehen bekommen. Ich war in jedem Ozean der Welt schwimmen, habe Wildtiere in den Regenwäldern des Amazonas aber auch in den Savannen Afrikas beobachtet. Ich bin auf Vulkane geklettert und habe aus sicherer Entfernung deren Eruptionen bestaunt. Ich habe Leckereien genossen, von denen andere nur träumen können.  Ich habe mit Beduinen Tee in der Wüste getrunken,  mit den Massai getanzt, bin mit Nachfahren der Maya auf uralte Pyramiden gestiegen. Diese Liste könnte ich ewig weiter führen, aber dass würde hier den Rahmen sprengen.

Fremde Orte und Kulturen kennenzulernen, ist ein Erfahrungsschatz, der keinem Menschen verweigert werden sollte. Natürlich muss es nicht immer die Extremerfahrung sein, die ich gemacht habe.  Aber mal ein Gericht aus fremden Ländern probieren,  sich mit Menschen aus der Ferne unterhalten, mal eine religiöse Einrichtung besuchen, die nichts mit dem eigenen Glauben zu tun hat, sind auch Erfahrungen, die sehr bereichernd auf Groß und Klein wirken können.

Saskia Valle


Ein Beitrag aus dem Magazin „Im Mittelpunkt“ März/April 2017 mit dem Leitthema „Erfahrungsschätze“
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