Mit der Geburt fangen sie an und werden mit jedem Tag mehr … lebenslang … gesammelte Erfahrungen. Sie beeinflussen alle Lebensbereiche, bestimmen unser Handeln und dienen als Schutzmechanismus, wenn wir vor neuen Situationen stehen. Kombiniert mit den kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, in denen wir aufwachsen, bestimmen unsere Erfahrungen unser persönliches Bewertungssystem, nach dem wir leben und unser Weltbild ausrichten. Kaum vorstellbar, dass diese Erfahrungen, die das Fundament unseres Handelns und Denkens bilden, von heute auf Morgen ihre Gültigkeit verlieren könnten und uns so vor ein Nichts stellen könnten. Undenkbar für uns? Nicht für viele andere, die sich auf den Weg zu uns gemacht haben, denn genau das steht dahinter, wenn wir einmal wieder in der Zeitung lesen: „Geflüchtete junge Männer meist ohne Ausbildung!“

Ahmad, 25, hat schon als Schüler im Irak begonnen bei Bekannten der Familie in einer KFZ-Werkstatt zu helfen. Er wollte schon immer KFZ-Mechaniker werden. Sein Vater und dessen Bekannter tranken zusammen Kaffee, redeten lange über die Familien, ihre Freundschaft und sprachen am Schluss auch über Ahmad: Er durfte daraufhin den Beruf des KFZ-Mechanikers in der Werkstatt des Bekannten lernen, wofür der Vater einen Ausgleich bezahlte, ein „Lehrgeld“. Die ersten vier Jahre bekam Ahmad selbst kein Geld für seine Arbeit, aber er durfte lernen. Irgendwann wusste er genug, konnte jedes Auto reparieren, jedes Ersatzteil bestellen, mit den Kunden reden und auch die Abrechnung machen. Er und sein Chef tranken diesmal Kaffee und sprachen miteinander. Nach diesem Gespräch war Ahmad KFZ-Mechaniker und erhielt seinen ersten Lohn. Fünf Jahre lang reparierte er hunderte Autos. Für fast alle Probleme fand er Lösungen. Im Herbst 2015 kam Ahmad nach Deutschland: In einer Statistik steht er in der Spalte „ohne Ausbildung“. Alles was er gelernt hatte zählt nicht mehr. Ahmad sucht nun eine Lehrstelle als KFZ-Mechaniker.

Suleiman, 35, verheiratet, zwei Kinder. In Syrien machte er eine Ausbildung als Krankenpfleger. Er hat fünf Jahre in einem  Krankenhaus gearbeitet und dann an der Universität studiert. Er wurde das, was hier einem Berufschullehrer für Krankenpflege entspricht. Fünf weitere Jahre hat er Krankenpfleger in Syrien ausgebildet. Dann musste er nach Deutschland fliehen, lernte die deutsche Sprache und hörte vom Jobcenter: „Sie haben gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt, wenn Sie eine Ausbildung als Krankenpfleger machen.“ Es gibt keine Anerkennung für alles vorherige. 13 Jahre Berufserfahrung in Syrien zählen nicht. Stattdessen steht er in Deutschland am Beginn der Berufsausbildung mit einem Lehrgeld, mit dem er keine Familie ernähren kann.

Habib ist 45 Jahre alt, ist verheiratet und hat drei Kinder. In Syrien war er selbständig, hatte seit 25 Jahren einen eigenen Elektrofachbetrieb mit drei Angestellten. Nach seiner Flucht nach Deutschland ist es ihm schon nach einem Jahr gelungen eine Arbeit zu finden: Er wurde hier Elektrikergehilfe und erhält nur wenig mehr als den Mindestlohn. Das reicht nicht, um seine Familie zu ernähren, aber er ist dankbar arbeiten zu können und etwas zu verdienen. Laut Statistik hat auch er keine Ausbildung – und doch ist er ein „Meister“ als Hilfsarbeiter.

Eine „Ausbildung“ in den meisten arabischen Ländern beruht auf Erfahrungswissen, das in vielen Jahren gesammelt wird. Hier in Deutschland zählt das alleine nicht. Hier fehlt ein Zeugnis und so sind viele deshalb formal „ohne Ausbildung“. Sie können nur als ungelernte Helfer arbeiten und zum Mindestlohn eingestellt werden. All seine Erfahrung mit der Ahmad jedes Auto reparieren kann, hat hier auf dem Arbeitsmarkt fast keine Bedeutung. Sicher, einiges ist in Deutschland anders als in Syrien, doch wer in seinem Beruf anerkannt werden möchte, muss in Deutschland noch einmal eine Ausbildung durchlaufen oder die eineinhalbfache Ausbildungszeit „ungelernt“ arbeiten und sich dann zur Externenprüfung bei der IHK anmelden, um ein gültiges Zertifikat zu bekommen. Die jahrelange Berufserfahrung zählt plötzlich in Deutschland nichts mehr, kann nicht gemessen, geprüft, in einem Nachweis sichtbar gemacht werden.

Dabei hat Habib noch Glück: In seinem Beruf darf er wenigstens als Hilfskraft arbeiten. Doch wie geht es beispielsweise einem Feuerwehrmann? Haidar hat zwar wertvolles Erfahrungswissen, doch in Deutschland steht er damit am Punkt null. Jeder Feuerwehrmann in Deutschland ist verbeamtet oder er ist ehrenamtlich bei der freiwilligen Feuerwehr. Verbeamtet kann ein Iraker aber nicht werden und auf der anderen Seite ernährt ein Ehrenamt weder ihn noch seinen Sohn, der von seiner sechsköpfigen Familie übrig geblieben ist. 18 Jahre Berufserfahrung bei der Feuerwehr im Irak –  doch in Deutschland steht er damit wieder ganz am Anfang.

Die im Ursprungsland gemachte berufliche Erfahrung wird in Deutschland entwertet und nicht angemessen genutzt. Unsere europäische Nachbarn dagegen haben fast alle Anerkennungsverfahren für jahrelanges berufliches Erfahrungswissen, die den fairen Zugang zum Arbeitsmarkt leichter machen. Es ist sicherlich verständlich, dass hiesige Arbeitgeber auf Qualitätssicherung durch Vorgaben u.a. der Berufsverbände setzen. Doch sollte im Sinne der Integration auch über neue Wege nachgedacht werden, um das berufliche Potential, welches in Form geflüchteter Menschen nach Deutschland kommt, nutzen zu können. Es würde nicht zuletzt auch uns Einheimischen nutzen, deutsche Hörigkeit in Zeugnisse, Nachweise und Zertifikate, aufzubröseln und durchlässigere Möglichkeiten zu finden, Menschen und ihre gemachten Erfahrungen in den Fokus ihrer Tätigkeiten zu setzen. Es wäre besser die Aussagen der Zeitungen zu hinterfragen und stattdessen zu lesen: „Geflüchtete junge Männer setzen ihre Erfahrungen im Arbeitsprozess ein – Fachkräftemangel gemindert!“

Sabine Schwingeler
Integrationsbüro Steglitz


Informationen zum Thema: „Wenn aus Kompetenzen berufliche Chancen werden – Wie europäische Nachbarn informelles und non-formales Lernen anerkennen und nutzen“ Erhältlich über: www.bertelsmann-stiftung.de

 

 

 

 

 

 

 


Ein Beitrag aus dem Magazin „Im Mittelpunkt“ März/April 2017 mit dem Leitthema „Erfahrungsschätze“
Das ganze Magazin können Sie als eBook oder interaktives Pdf herunterladen, die gedruckte Version, einschließlich dem Einleger mit allen Veranstaltungen des SzS, finden Sie in unseren Einrichtungen.

 

 

 

 

 

 


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