Abozar ist 17 Jahre alt und Ringer, er geht seit einiger Zeit in einen Berliner Verein. Für den jungen Flüchtling, der ohne Eltern von Afghanistan nach Deutschland gekommen ist, ist das mehr als nur Sport, es ist ein wichtiger Teil seiner Identität. Der Sport gibt ihm offenbar Halt. Es ist der Teil seines Lebens, den er herübergerettet hat. Viel mehr hatte er nicht, als er vor zwei Monaten als einer der Ersten in unserer temporären Unterkunft für minderjährige Flüchtlinge ankam, ohne Gepäck. Dass er fror, zeigte er nicht, zu groß war sein Stolz. Und groß ist seither seine Dankbarkeit.

Seit gestern weiß ich, Abozars Vereinssport ist illegal, und meine Unterstützung ist es vermutlich auch. Der Berliner Senat, der die Vormundschaft unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge inne hat, schließt die Teilnahme an Kampfsportarten aus. Aus meiner Zeit beim Kung-Fu ist mir keine Verletzung bei mir oder anderen erinnerlich, während wir uns beim Handball einige heftige Blessuren und Brüche zuzogen. Aber auch die gehörten dazu, wenn wir als junge Männer um den Ball, um den Sieg und um die Blicke der Mädchen kämpften. Ich kenne Zehnjährige, die zum Boxen, zum Taekwondo oder zum Judo gehen und dabei nichts als Freude, Stolz und Ehrgeiz entwickeln.

Ehsan ist im selben Alter und will seine Tante besuchen. Seine Tante kommt, wie Ehsan, aus dem Iran, lebt aber seit 30 Jahren in Wiesbaden. Seit zwei Wochen sage ich ihm: „Dein Besuch bei der Tante ist beantragt, bitte warte“. Meinem Sohn hätte ich das Geld für eine Fahrkarte in die Hand gedrückt und ihm empfohlen, sich ein paar Tage von der Tante verwöhnen zu lassen. Ehsan, einem meiner 50 Jungs, muss ich sagen, dass sein Besuch „beantragt“ ist, ich schäme mich dafür. Gestern Nacht hat er seine wenigen Sachen gepackt und ist gefahren. Die Nachtwache erzählte mir, er hätte noch lange mit Freunden geweint, bevor er seine Entscheidung traf und ging. Sein Verhalten ist illegal und gefährdet seinen Aufenthaltsstatus. Ich an seiner Stelle hätte das Gleiche getan.

Abuzar und Ehsan leben in einem umzäunten Camp, auf dessen Grundstück niemand kommt, ohne einen Ausweis zu zeigen. Nach zwei Monaten frage ich mich, wen wir hier eigentlich vor wem beschützen? Die Jungs sind friedlich, die Nachbarn auch. Nur: Wie soll der Eine auf den anderen zugehen, wenn er erst an einem Security Mitarbeiter vorbei muss. Der Senat tut Vieles für die Sicherheit seiner Mündel, aber die Maschen seines schützenden Netzes sind so eng, dass ein Leben darin schwierig ist.

Statt in der Schule – die Einschulung lässt auf sich warten – verbringen sie viel Zeit in behördlichen Wartezimmern. Die Jungs kommen bald in ein Verfahren, dass sich sich „Clearing“ nennt und in dem es um die Feststellung ihres Alters geht. Sobald das Clearing beginnt, kommen sie in eine andere Einrichtung. Sind sie dann volljährig, wechseln sie wieder. Wo sollen sie Wurzeln schlagen? Am besten gar nicht. Einem Baum, der alle drei Monate umgepflanzt wird, würde ich das Gleiche raten. Dabei ist Wurzeln schlagen das Synonym für Integration.


Dieser Beitrag von Oliver Schmidt erschien am 10.3.2016 auf der Seite blog.zwo-punkt-null.de/

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