… vor gar nicht all zu langer Zeit …

Teil IV Charkow-Kiew-Berlin

teil_4_15 Bevor ich nun Versuche die nächsten beiden Tag zu beschreiben möchte ich hier vorher etwas erklären. Diese Tage waren die Intensivsten die ich auf der ganzen Reise erlebte und wenn beim Versuch diese zu beschreiben etwas vergessen wird oder mit Absicht weggelassen wird, ist dies ganz einfach der Menge an Ereignissen geschuldet. Wer sich noch mehr und genauere Informationen einholen möchte, für den lasse ich hier ein paar Links, die dabei hoffentlich hilfreich sind:

Private Boikow-Schule: https://www.boiko.com.ua

Flashmob: https://www.youtube.com/watch?v=klXc_wC_p5E&feature=youtu.be

Musical: https://www.youtube.com/watch?v=RCnhNXUzYpk

01. April, 7 Uhr. Netter Nebeneffekt der Reise: Ich Träume mal wieder auf Englisch. Ein schnelles Frühstück und um 8.10 Uhr holte mich Maria ab um in die Boikow-Schule zufahren. Zu meiner Überraschung fuhren wir mit dem Schulbus und es war schon sehr lustig mit den SchülerInnen, die mich alle neugierig beäugten, durch die Stadt zu fahren. Mit einem Bus, bei dem ein deutscher TÜV Prüfer seine reinste Freude gehabt hätte, die Scheiben völlig beschlagen und ziemlich dicht gedrängt, kamen wir nach einer halben Stunde an. Zuerst stand ein kleines Vorstellungs- und Positionsgespräch bei Direktor Aleksandr Makagon auf dem Plan. Ein sehr gelassener Mann, der im allgemeinen die Ruhe weg hat, einen schrägen Humor besitzt, aber auch genaue Erwartungen hat, die er mir in unserem kurzen Gespräch auf sympathische Art und Weise auch gleich klar machte. So mein erster Eindruck. Unstimmigkeiten hatten wir keine und schnell war klar, dass das Ergebnis meines Besuchs eine langfristige Kooperation zwischen dem Stadtteilzentrum und der Boikow-Schule ergeben soll.

Was etwas für Verwirrung sorgte war die Tatsache, dass nun mal die 10.ISS nicht direkt an der Kooperation beteiligt ist, sondern „nur“ wir als „Stadtteilzentrum Steglitz e.V.“ (SzS). Das dies nicht als Nachteil zu verstehen ist, kostete mich dann schon einige Erklärungen. Klar, wenn man bedenkt, dass das Konzept einer Sekundarschule in der Ukraine recht unbekannt ist. Als ich ihm aber klar machen konnte, dass wir als SzS, mit vielen unterschiedlichen Einrichtungen, viel mehr Möglichkeiten haben eine solche Kooperation umzusetzen und am Leben zu halten, war er damit sehr zufrieden. Diesen Umstand musste ich noch das ein oder andere mal aufklären und nicht immer war ich mir sicher, ob dies auch für gut befunden wurde. Nach unserem Gespräch machten wir uns erst mal auf die Schule zu besichtigen. Vorab muss man hier erwähnen, dass diese Schule eine privat Schule ist und somit über sehr viel mehr finanzielle Mittel verfügt als eine staatliche Schule (Die Eltern zahlen ca. 900 € im Monat für einen Schulplatz; das LehrerInnen Gehalt liegt im durchschnitt bei 250 €!) Das hier eine andere Lernkultur oder auch Disziplin herrscht als beispielsweise an der 10. ISS wurde mir schnell bewusst. Aber nun zum Rundgang:

Im Eingangsbereich muss sich jeder bei einem Pförtner anmelden. Danach geht jede Schülerin oder jeder Schüler zu seinem Fließfach und schließt dort alle technischen Dinge wie Laptop, Handy oder Tablet PC ein. Lässt sich ein SchülerInnen damit während der Schulzeit erwischen, kommt z.B. der Laptop in einen extra dafür Briefkastenähnlichen Kasten an der Wand. Dieser wird immer am 24. Mai gelehrt und alle bekommen ihre Sachen zurück. Wieso am 24. Mai? Ganz einfach, das ist der Geburtstag des Direktors. Wer sich also am 25. erwischen lässt hat Pech. Spielraum für Diskussionen, so wie ich sie kenne, gibt es dort einfach nicht. Auch völlig ungewöhnlich für mich war, dass in fast jedem Klassenzimmer Kameras angebracht sind. Diese sind nicht, wie wir vielleicht denken, zur Kontrolle der SchülerInnen oder auch der Lehrer da, sondern dafür das z.B. kranke SchülerInnen den Unterricht auch von zuhause aus verfolgen können.

Ebenso gibt es jeden Tag und von jeder Klasse ein Tagesprotokoll, dass im Internet eingesehen werden kann. Bis auf die Kameras sind die Klassenzimmer eingerichtet wie eben Klassenzimmer eingerichtet sind. Alles in allem war mein erster Eindruck aber sehr angenehm, das Gebäude ist von außen her vielleicht nicht das schönste, innen aber sehr hell und freundlich. Die SchülerInnen und LehrerInnen, die mir dort in den Fluren begegneten, machten alle einen mehr oder weniger gut gelaunten Eindruck, was mich etwas beruhigte, denn Schule und Freiwilligkeit ist ja oft ein krasser Gegensatz. Es hätte mich eher verwundert, wenn das hier anders wäre und alle fröhlich singend durch die Gänge tanzen würden. Die Pausenklingel ist übrigens nicht eine herkömmliche Klingel, sondern eine Ansage des Direktors, der die Pause ansagt und am Ende alle wieder mit der Ansage in den Unterricht ruft, dass jetzt alle SchülerInnen wieder Lernen gehen dürfen. Der Standpunkt oder besser die Haltung der Schule ist ganz einfach die, dass hier gelernt werden darf und nicht gelernt werden muss, wer nicht will braucht auch hier nicht zur Schule gehen, und genau das wollen alle auch vermitteln. Vielleicht habe ich mich vom ersten Eindruck blenden lassen, aber genau so empfand ich auch die Stimmung auf den Gängen sowie auch im Unterricht. Die SchülerInnen wussten, dass sie eine gute Schule haben, das ihre Eltern eine Menge Geld dafür auf den Tisch legen, dass sie hier einen privilegierten Schulabschluss bekommen können, und dass dafür nicht wenig Disziplin eingefordert wird.

Disziplin und Respekt voreinander von beiden Seiten ist hier von sehr großem Wert. Dieser Gedanke kam mir aber erst später und war eine eher nachdrücklicher Erkenntnis als ich etwas mehr Ruhe hatte die Schule und die Eindrücke Revue passieren zu lassen. Beim Nachdenken musste ich mich immer wieder fragen, ob dies gelebte Motto der Schule wirklich so in den Köpfen steckt oder ob dies auch eine eingeübte Disziplin aus früheren Schultagen ist. Die Ideologie, die ich vielleicht gespürt oder vermute habe und mich auf den Gedanken kommen ließ, dass hier noch das sozialistische Gedankengut zu finden ist, irritierte mich dann doch. Vorurteile? Ich, der in der hessischen Provinz aufgewachsen bin, kann hier nur vermuten und nicht vergleichen. Es ist lediglich ein Gefühl, dass ich dort hatte und so in einer Schule, so wie ich sie kenne, einfach auch noch nicht hatte.

Ich bekam bei diesem Rundgang durch die Schule wirklich alles zu sehen was sie zu bieten hatte. Von einem kleinem Schwimmbad, über die Mensa, eine Bolderwand im Flur, sämtliche Klassenzimmer von Grundschulklassen bis zum Gymnasium, die Fachbereiche und die dazugehörige Ausstattung, die Außenanlage mit Sportplatz und ich durfte mich sogar mit einer Klasse unterhalten, die Filme und eine Präsentation vorbereitet hatten. Die meisten oben erwähnten Ausstattungen erklären sich von selbst, einen Fachbereich und das Treffen mit einer 11. Klasse möchte ich aber noch genauer Beschreiben.

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Der Fachbereich Technik hat mich besonders beeindruckt, da er sich doch sehr von unserem unterscheidet. Wahrscheinlich spielen hier die finanziellen Mittel der Schule keine Unbedeutende rolle. Die SchülerInnen lernen hier an Lego Robotertechnik das Programmieren. Jede kleinste Bewegung muss einzeln in die Software eingegeben werden, wann und wo der Roboter was zu tun hat – eine echte Fleißarbeit. Wenn ich es recht in Erinnerung habe, stehen hier auch regelmäßig Prüfungen an. Fest im Lehrplan inbegriffen ist auch das Thema Modellbau. Hier wurde mit einer Klasse im letzten Jahr ein Schnellboot gebaut bei dem wirklich alles von oben bis unten selbst gebaut worden ist – vom Rumpf bis zum Motor. Möglich ist so etwas natürlich nur wenn man die richtige Ausstattung dafür hat und Lehrer die damit Umgehen können.

Der Lehrer in diesem Fachbereich hatte zuvor irgendwas mit Technik studiert und Jahre lang als Ingenieur gearbeitet. Mit Fräs- und Drehmaschinen, der richtigen Software und bestens qualifizierten Lehrern bietet die Schule hier einen besonderen Unterricht an, der sehr anschaulich aufgebaut ist. Ich kann mir gut vorstellen, dass es die SchülerInnen verdammt viel Spaß daran haben, wenn ihre letzte Klassenarbeit mit 150 km/h über einen See jagt. In jedem Fall hatte unser Fachlehrer/Ingenieur/Modellbauer mächtig viel Spaß dabei, uns alles zu erklären und zu präsentieren. Wie es der Zufall so will sollte ich hin heute noch einmal überraschend wieder treffen.

Eine Sache muss ich noch erwähnen, den 3D Drucker, der bis auf einzelne Teile auch komplett selbst gebaut worden ist. So ein Teil hatte ich irgendwann in einem Elektromarkt nicht weit vom Alexanderplatz gesehen und niemals in einer Schule erwartet. Die wohl sündhaft teure Software wurde großzügig von Microsoft gesponsert, an der das Programmieren von 3D Objekten geübt wird. Um den Unterricht noch mehr zu veranschaulichen, werden hier z.B. die Querschnitte von Modellbootmotoren gedruckt und so haben die Lehrer ganz andere Möglichkeiten den Unterricht zu gestalten. Die Schule sowie auch die Ukraine selbst sehen in Computertechnologie den Markt der Zukunft, investieren gezielt in diesen und fördern Projekte wo es geht. Microsoft lässt es sich natürlich nicht nehmen schon die Kleinen an ihre Software zu gewöhnen.

Irgendwann im laufe des Vormittags hatte ich die Gelegenheit, mich mit einer 11. Klasse des Gymnasiums zu unterhalten. Ich möchte mal wissen, was Maria im Vorfeld der Klasse erzählt hat, wer sie besuchen kommt. In jedem Fall war ich erstaunt als da eine Klasse vor stand, die Jungs im Anzug, die Mädchen in Blümchenkleidern – die mich sehr aufgeregt und höflich begrüßten. Jeder einzelne hatte Fragen vorbereitet und nacheinander durften sie mir diese dann stellen. Von „Was machen denn die gleichaltrigen Jungs und Mädchen in Deutschland so?“ bis „Wie ist die Schule bei euch denn so?“ über „Mögen sie Borschtsch?“ (Ukrainische Gemüsesuppe und Nationalgericht), waren wirklich alle Fragen dabei und wir hatten eine Menge zu lachen und ich konnte reichlich Gegenfragen stellen.

Die Klasse zeigte mir Filme von ihren letzten Aktionen, die sie gemacht haben. Zwei Filme zu diesen Aktionen habe ich oben in der kurzen Einleitung zu diesem Tag verlinkt. Zum einen gibt es da einen Flashmob, den die Klasse in einer Fußgängerzone veranstaltet hat und zum anderen gibt es dort einen Link zu einem Musical. Jedes Jahr zum Schulende wird ein solches Musical auf die Beine gestellt. Der Aufwand ist wahnsinnig groß, wird von den LehrerInnen in großen Teilen in ihrer Freizeit organisiert, vorbereitet und geprobt. Die komplette Schule inklusive dem Direktor ist mit einbezogen und jeder steuert irgendwas dazu bei. Unterstützt wird die Schule dabei von Theatern, Schauspielern und einem Jugend-Pionier-Palast, von dem gleich einiges Berichten werde. Viel dazu sagen braucht man dazu eigentlich nicht, denn wenn man das Musical gesehen hat, wenn auch nur in Ausschnitten, kann man sich in etwa Vorstellen was für ein riesiger Aufwand und Organisation dahinter steckt.

Nachdem die Klasse ihr vorbereitetes Programm vorgestellt hatte, blieb uns noch genug Zeit, dass ich auch meine Fragen stellen konnte. Vorbereiten konnte ich natürlich nichts, denn ich wusste ja auch überhaupt nichts von diesem Treffen. Also dachte ich mir, dass eine gute Idee wäre schon einmal die Klasse zu fragen, was sie denn von einer Partnerschule und den dazugehörigen SchülerInnen erwarten wurden. Dabei kam im Endeffekt heraus wie wir die Webseite aufbauen müssten um den Jugendlichen gerecht zu werden. Eine Webseite zu erstellen war von Anfang an die Idee mit der wir die Partnerschaft pflegen wollten. In dem Gespräch mit den SchülerInnen kristallisierte sich aber da schon heraus wie diese aussehen müsste. Ein Wunsch war es, sich über einen Blog außerhalb der üblichen Mittel z.B. Facebook und anderem auszutauschen zu können. Für den Anfang wollten sie erst mal über gemeinsame Schulprojekte austauschen, im Laufe der Zeit war aber klar, dass sich alle eigentlich diesen Blog wünschten um die Jungs und Mädchen kennenzulernen. Die Schulprojekte rückten also erst mal in den Hintergrund und Maria und ich beschlossen, die Ideen die die SchülerInnen dazu hatten aufzuschreiben und dann morgen, wenn ich wieder in der Schule wäre, mit dem Direktor zu besprechen. Was für Ideen dabei heraus kamen, möchte ich deshalb erst später auflisten, denn die Zeit drängte etwas. Wir mussten ja zum nächsten Termin im Konsulat. Wir verabschiedeten uns also herzlichst und dann mit dem Taxi schnell ins Konsulat.

Dort sollte um 13.00 Uhr ein Kongress zu internationalen Arbeit an Schulen stattfinden. Wunderbar dachte ich mir, etwas zurücklehnen und zuhören wie solche internationalen Projekte aussehen könnten und zu planen sind, kommt mir jetzt sehr gelegen. Die Stunden in der Biokow-Schlule vergingen nicht wie im Flug, sondern eher wie im 4/4 Takt und ich hätte jetzt schon gerne mal 5 Minuten für mich gehabt um über diesen Vormittag nachzudenken.

Im Konsulat angekommen, entdeckte ich auch gleich Olga, die im Kongresssaal am einem der vier Rednerpulte saß und mich gleich zu sich winkte. Wir unterhielten uns kurz und während dessen wurde mir immer komischer in der Magengegend. Hatte ich das gerade richtig verstanden (Olga spricht ein sehr gutes klares deutsch), wer sollte den Vortrag jetzt noch mal halten? Und wieso steht da mein Name an einem der Rednerpulte? Komisch die anderen Namen kenne ich doch auch … die Sache war klar. Heute sind wir die, die den Kongress leiten sollten. Leider war ich der erste der im Konsulat war und die halbe Stunde, die ich auf meine Mitredner warten musste, war wirklich nicht schön. Was, wenn die nicht kommen, aus welchen Gründen auch immer, da kann ja immer mal was dazwischen kommen und alles was einem da sonst noch an Horrorszenarien durch den Kopf geht – sie sind alle durch meinem Kopf gewandert.

Da saß ich nun in meinem neuen Sakko, Hemd, schwarzer Jeans und geputzten Schuhen – was für mich schon kleidungstechnisch sehr ungewohnt war und versuchte irgendwie souverän auszusehen. Endlich trudelten dann auch die anderen ein und irgendwie war es beruhigend zu sehen, dass ihnen genauso wie mir die Gesichtszüge entglitten als sie von Olga erklärt bekamen was wir heute so veranstalten. Viel Zeit um uns abzusprechen blieb uns nicht, der Saal füllte sich schnell. Zu „unserem“ Kongress waren LehrerInnen, Direktoren, Schulleiter, Mitarbeiter des Schulamtes und Schülerinnen eingeladen und es blieb kein Platz frei. Uns blieb also nichts anderes übrig als die Sache abzunicken und los ging es auch schon. Die stellvertretende Konsulatsleiterin stellte uns kurz vor, als ich der Reihe war musste ich an Andreas Oesinghaus, unsern Arbeitsbereichsleiter, denken, der mir vor der Reise mit auf den Weg gegeben hatte, ich sollte einfach ich selbst sein und den Rest auf mich zukommen lassen. Der da aber vorgestellt wurde war doch gar nicht ich. Ich war und bin weder Projektleiter, noch habe ich große Erfahrungen mit internationaler Arbeit an Schulen (noch) und meine Blicke in Richtung Olga wurden immer verzweifelter.

Olga bemerkte meine zunehmende Panik, kam kurz rüber und schrieb in meinen Kalender „Sorry, it’s a misstake!“. Toll, das hilft mir nun auch überhaupt nicht weiter, aber nun gut, wir traten die Flucht nach vorne an. Wir begannen damit zu erklären, welche Projekt wir versuchen hier auf die Beine zustellen und wie wir denken, wie das ablaufen könnte. Ein guter Anfang mit reichlich Diskussionsstoff, wie ich fand. Wir erzählten, beschrieben unsere Einrichtungen und wie die Projekte dort integriert werden könnten, berichteten von bereits angelaufenen Unterfangen und spielten uns die Bälle so gut zu, dass wir immer mehr an Sicherheit hinter unseren Rednerpulten gewannen. Wir stellten immer wieder Fragen an unser Publikum, forderten sie wiederum auf Fragen zustellen, erklärten unsere bedenken. Ich weiß nicht ob wir eventuell bei unseren Erklärungen und Beschreibungen schon zu viel vorweg genommen hatten oder ob unser Auftreten irgendwie einschüchternd auf unsere Zuhörer gewirkt hat, in jedem Fall mussten wir nicht mehr viel erklären und die Hände, die sich für Fragen meldeten wurden immer weniger. Das Grinsen von Olga und der Konsulatsleiterin wurde im Laufe des Kongresses immer breiter und gegen 16.00 Uhr waren wir fertig. Als alle aus dem Saal gegangen waren, klatsche uns Olga und die Konsulatsleiterin mit dem Kommentar „very, very good“ ab. Ich konnte den anderen gerade noch sagen, dass wir uns über die Nummer, die hier gerade gelaufen ist unbedingt heute Abend noch unterhalten müssen und musste dann auch gleich wieder los, denn Maria zeigte mir schon wieder ihre Uhr. Ein deutliches Zeichen das wir weiter müssten.

Als nächstes stand ein Besuch in einem Jugend-Pionier-Palast (J.-P.-P.) auf dem Programm. Ich als Wessi konnte mir wenig darunter vorstellen, also ging ich recht unvoreingenommen an die Sache ran. Mich immer noch fragend was da eben im Konsulat abgelaufen ist, stand ich auch schon im Eingangsbereich eines J.-P.-P.. Das Gebäude allein schon ist sehr beeindruckend. Von außen eher unscheinbar hat es innen Schloss Charakter. Hohe Räume, lange breite Flure, riesige schwere Türen die zu hunderten von Räumen führten. In den Fluren tobten Kinder und saßen wartende Eltern. Alles schien in Bewegung zu sein, Stimmengewirr, Musik, Menschen in Kostümen, die durch die Gänge liefen. Schon nach der ersten Minute an fühlte ich mich in sowjetrussische Zeiten zurückversetzt. Vielleicht lehne ich mich bei solch einer Beschreibung viel zu weit aus dem Fenster, ich habe ja nun keinen Vergleich aus meiner Jugend. Ich kann mich lediglich daran erinnern, dass mich meine Eltern einmal auf einen Ausflug in ehemalige DDR mit genommen haben, und dass ich dies definitiv nicht lustig fand. Trotzdem hatte ich den Eindruck. Eventuell erklärt sich das im Folgenden.

Doch zuerst sollten Maria und ich uns bei der Direktorin vorstellen. Wir unterhielten uns kurz über meine Mission in der ich hier unterwegs war und sie erläuterte mir dann wie sich der J.-P.-P. Organisiert. In den Details könnte ich das nicht mehr genau wiedergeben, aber die wichtigsten Eckpunkte sind mir noch Präsent. Finanziert wird das ganze durch die Beiträge der Eltern, durch Zuschüsse vom Staat und Spenden. Alle Kinder und Jugendlichen können sich für unterschiedliche Kurse anmelden, für die es ein Zeugnis oder Zertifikat gibt, welches bei Bewerbungen für einen späteren Beruf wohl nicht unbedeutend ist. Von Ballett, Puppenspiel, Balalaika Gruppen, einem kompletten Chor (ca. 80 bis 100 Stimmen), Schauspielgruppen, Modellbau Werkstätten, Bauchtanz, Visualisierung von Musik, unterschiedlichen Kunst Gruppen von Malerei bis Skulpturen Bau und und und… Insgesamt 5800 Kinder und Jugendliche von der ersten Klasse bis zum Abitur sind dort angemeldet und über 300 ehrenamtliche Lehrer Unterrichten dort in ihrer Freizeit. Der totale Wahnsinn, was da dort geleistet wird. Den J.-P.-P. gab es schon seit Sowjetzeiten und hat sich in seiner Organisation und Struktur wohl kaum verändert. Er ist noch immer voll in der Gesellschaft integriert und gilt als sehr wichtige Institution.

Maria und ich wurden nach unserem Gespräch mit der Direktorin nun auf eine „kleine“ Besichtigungstour geschickt. Im 5 Minutentakt gingen wir von Raum zu Raum und hinter jeder Tür übten und probten Kinder oder Jugendliche in den Kursen. Jedes mal hatte ich den Eindruck, dass es dort sehr diszipliniert abläuft und die LehrerInnen eine große Autorität darstellen. Vielleicht habe ich in der Kürze der Zeit, die mir in den einzelnen Kursen blieb, einen falschen Eindruck davon bekommen oder ich wurde von dem vielen „Neuen“ erst mal etwas überfahren. Trotzdem blieb bei mir hängen, dass das alles einen gelösten und fröhlichen Eindruck machte. Wie schon gesagt wurde ich von Raum zu Raum getrieben und ich könnte zu jedem einzelnen etwas erzählen. Da ich den Rahmen, den ich eh schon gesprengt habe noch weiter sprengen würde, möchte ich jetzt nur von zwei Angeboten berichten, die mich besonders beeindruckten und für die ich mir, zum Ärger unserer Besichtigungsmanagerin, etwas mehr Zeit nahm.

teil_4_3 Zum einen traf ich in der Modellbauwerkstatt meinen alten bekannten Lehrer aus der Boikow-Schule wieder, der dort den Modellbaukurs anbot. Wie schon in der Schule bekam ich einige Modelle mit dazu gehörigen Filmen zusehen und einen sehr interessante Geschichte erzählt: Bei einem schweren Autounfall wurde die Schädeldecke eines jungen Mannes schwer deformiert, so dass eine Rekonstruktion dringend nötig war. Das Krankenhaus hatte hier für nicht die Möglichkeiten und wendete sich an den J.-P.-P.. Hier konnte der Kopf eingescannt werden und mit einem 3D Drucker nachgedruckt werden. Daraufhin wurde eine Metallplatte an das Kopfmodell angepasst und konnte so dem gerade mal 20-jährigen eingesetzt werden. Ein super Beispiel für die Verknüpfung in der Gesellschaft und wie sich hier gegenseitig unterstützt wird. Wäre das auch bei uns so möglich? Ich hätte mir liebend gerne noch mehr angehört, aber ich wurde schon wieder sanft aus der Tür geschoben.

Die zweite Station, die ich erwähnen möchte, ist das Puppentheater mit dazugehöriger Werkstatt. Ein, für das Haus, mittel großer Saal mit einer kleinen Bühne, die komplett in schwarz ausgekleidet war. Nur bei hineingehen alleine schon strahlte der ganze Saal eine besondere Atmosphäre aus, die einem das große restliche Gebäude vergessen ließ und man sich wie in einer eigenen Welt fühlte. Durch die Puppen in allen Größen und Formen wurde dieser Eindruck nicht gerade geschmälert. Unheimlich liebevoll und detailverliebt gearbeitete Figuren, die alle in Eigenarbeit entstanden sind. Die surrealen Puppen in Lebensgröße machten auf mich einen wahnsinnigen Eindruck und es fällt mir erstaunlich schwer, dies hier auf „Papier“ zu bringen. Alles was ich zu diesem Puppentheater noch sagen kann ist … Yeah!

Wie lange wir durch die Räume und Zimmer gerannt sind, kann ich nicht mehr sagen, es müssen wohl ca. 2 Stunden gewesen sein. In jedem Fall war ich danach völlig überdreht und kaute Maria, als wir wieder vor dem Eingang standen, ein Ohr nach dem anderen ab. Ich wollte noch unbedingt herausfinden, wie sie ihre Zeit dort erlebt hat. Wie fühlt man sich als Kind in diesem Palast? Wie groß ist der Leistungsdruck? Wie hält man es aus, morgens in der Schule zu sein und abends hier noch 2 Stunden zu verbringen? Leider erhielt ich keine richtig befriedigende Antwort von Maria, sondern sie antwortete eher mit Schulterzucken. Eine Reaktion, die mich grübeln ließ. Inzwischen war es 19 Uhr und wir waren noch nicht am Ende des Tagesprogramms.

Ich war froh später wieder wieder in  Richtung Hotel laufen zu können. Natürlich nicht um endlich ins Bett fallen zu können, wir hatten ja wie jeden Abend Gäste. Keine Ahnung wer die waren, das ist mir und meinem Protokoll völlig verloren gegangen. Sabine und ich unterhielten uns den ganzen Abend über das Erlebte und ich war echt froh zu sehen, dass sie genauso euphorisch und platt war wie ich. Für mich ein unglaublich Tag, an den ich immer denken muss, sobald ich auf diese Reise zu sprechen komme.

Keine Zeit um stillzustehen. Es ist der zweite April und heute wollten wir in der Boikow-Schule unser weiteres Vorgehen durchsprechen. Um 8:30 Uhr fuhren wir, zu meiner Freude, wieder mit dem Schulbus zur Schule. Maria, der Direktor und ich besprachen im einzelnen welche gemeinsamen Projekte wir realistisch umsetzen könnten. Nicht ganz so einfach, da Maria vieles übersetzen musste und ich viel über unsere Trägerstruktur erklären musste. Nach einigem hin und her war dann aber schnell klar, was wir wollten und konnten unsere Vorstellungen auf einen Nenner bringen. Was von Anfang an klar war – wir wollen einen langfristige Kooperation aufbauen, die als Ziel einen Schüleraustausch haben sollte. Für den Kontakt zwischen den SchülerInnen erschien es uns am sinnvollsten und zeitgemäß eine Webseite einzurichten, über die sich alle SchülerInnen von beiden Seiten austauschen können. Zum Anfang und gegenseitigem Kennenlernen sollten Kochrezepte, Filme über ihre Freizeitbeschäftigungen und verschiedene Schulaktionen im Vordergrund stehen. Das hört sich für mich wie ein guter Start für die Kooperation an. Die größte Hürde, die ich bei unseren Verhandlungen nehme musste war, dass ich den Direktor immer wieder ausbremsen musste. Er hätte am liebsten sofort noch weitere Projekte mit übernommen. Projekte wie z.B. zur Ökologie oder Energieeffizienz an Schulen. Das sind Aktionen, die ich nicht ablehnen wollte, weil ich sie für sehr wichtig halte, aber mir für einen Start doch zu viel erschienen. Ich konnte den Aufwand schwer abschätzen und wollte erstmal keine übermotivierten Zusagen machen um später keine Enttäuschungen auszulösen. Somit blieben wir also bei unserem „Step by Step“.

Am späten Vormittag trafen zur Besichtigung der Schule Heike, Sabine und Andreas aus unserer Delegation ein. Die Schule habe ich ja schon ausreichend beschrieben. Als wir dann gegen 17 Uhr fertig waren, ich den ganzen Tag verhandelt und erklärt hatte, spazierten wir zu unserem letzten gemeisamen Abendessen in Charkow. Jeder berichtete von dem was in den letzten beiden Tagen passiert ist. Sehr zufrieden mit den Ergebnissen klopften wir uns gegenseitig auf die Schultern und wir gingen recht früh jeder auf sein Zimmer.

Letzter Tag in Charkow. Nach dem Frühstück war es uns freigestellt, ob wir noch mit zur Besichtigung eines Flüchtlingscamp in der Nähe mit fahren wollten. Sabine und ich entschlossen uns nicht mehr mitzufahren, wir waren emotional echt am Ende! Also machten wir uns auf die Stadt um Sehenswürdigkeiten zu erkunden. Wir schlenderten durch Wohnviertel, Plätze und Parks und ließen die Stadt auf uns wirken. Als wir einen Passanten anhielten um nach den Weg zu fragen – wir hatten uns etwas verlaufen – bekamen wir den Tipp uns unbedingt den neu eröffneten Stadtpark anzugucken. Nach kurzem suchen standen wir in dem Park. Die Wege und Grünflächen waren neu angelegt und gepflegt, doch war es eher ein großer Freizeitpark mit quietschbunten Fahrgeschäften und merkwürdigen Plastikpilzen die Volkslieder schmetterten. Nicht gerade das, was ich mir unter einem Park vorstelle, aber in Charkow die neue Attraktion ist. Lange konnten wir uns dort nicht herum treiben, denn um 13 Uhr sollte unser Zug nach Kiew starten und wir waren spät dran. Viel gibt es hier nicht mehr von diesem Tag zu berichten, außer vielleicht, dass man auch in einem Zug wunderbar schlafen kann, was mir bisher immer vergönnt war.

teil_4_12 Hiermit möchte ich nun meinen Bericht abschießen, denn von der Zugfahrt zurück, unserer letzten Nacht in Kiew und dem Heimflug Berlin gibt es nicht mehr viel zu berichten. Zum Abschluss möchte ich aber noch ein kleines Fazit ziehen und mich jetzt schon mal bei meiner Leserschaft recht herzlich fürs durchhalten bedanken. Obwohl es mir gerade etwas schwer fällt hier die richtigen Worte zu finden, denn die Reise ist hier für mich ja noch lange nicht zu Ende. Die Kooperation mit der Boikow Schule ist in vollem Gange und wir planen unsere Webseite, Schüler sind gefunden und der Kontakt zu Maria ist super. Es ist zwar manchmal echt anstrengend und es ist viel Arbeit, aber ich müsste überlegen, wann ich das letzte Mal so motiviert und entschlossen war. Diese Reise hat bei mir einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, der mich definitiv als einen anderen zurück kommen lassen hat und ich sitze jetzt hier und weiß nicht genau wie das zu beschreiben wäre. Vielleicht ist es etwas übertrieben zu sagen, dass ich völlig anders zurück gekommen bin, aber doch anders. Ich habe jetzt gesehen wie es in Flüchtlingscamps aussieht, habe Schulen gesehen, jede Menge neue interessante Menschen kennengelernt und trotzdem denke ich, dass ich nur an der Oberfläche gekratzt habe. Es ist in jedem Fall eine Begeisterung für ein Land entstanden, die tiefer geht und von mir vorher so nicht erwartet wurde. Es bleiben offene Fragen, wie z.B. über das Gefühl, was man hat, wenn man als Kind in diesem J.-P.-P. einen Teil seiner Jugend verbringt, was denken die Kinder heute darüber. Wie geht es den Menschen wirklich? Ich hatte gelegentlich das Gefühl, dass wir als eine Delegation aus Deutschland bevorzugt behandelt wurden und dadurch aber nicht zu den waren kleinen Problemen, die die Menschen jeden Tag vor sich haben, vorgedrungen sind. Richtig, wir hatten sehr viel tiefere Einblicke in die Ukrainische Gesellschaft als ein normaler Tourist. Richtig, wir sind mit Leuten in Kontakt gekommen, die uns sicherlich, allein schon durch ihren Beruf, Informationen zukommen ließen, die man sich nicht auf der Straße erzählt. Und doch habe ich das Gefühl nicht alles erfahren zu haben, und dass die kleinen Dinge im Großen etwas untergegangen sind. Das nagt etwas an mir und ich muss unbedingt noch mehr über Land und Leute erfahren und ich werde mir dazu nicht, wie vor unserer kleinen Exkusion Bücher zulegen. Ich hoffe im September bin ich wieder da.

Henning Gnau
EFöB an der 10. ISS

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