…vor gar nicht all zu langer Zeit…

Teil II – Kiew

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… willkommen beim zweiten Teil meiner Berichterstattung über meine kleine Osteuropa-Exkursion und zum wirklich interessanten Teil. Wer den ersten Teil schon verflogt hat, weiß, wie ich dazu kam in die Ukraine zu fliegen. Und nun will ich hier im zweiten Teil versuchen zu berichten, welche Eindrücke und Erfahrungen ich da von Tag zu Tag erleben durfte.

Es ist der 28. März und nun sollte es endlich in Richtung Kiew losgehen. Die erste Frage, die ich mir stellen musste war, wie könnte ich aus der ziemlich überfüllten Tegeler Check-In-Halle eine Gruppe von 6 Leuten, die ich vorher noch nie gesehen hatte, finden. Mit einem dicken Fragezeichen über dem Kopf und meinem geliehenen Koffer stand ich also da und nach zehn Minuten war mir klar, dass ich mich auf die Suche machen muss, denn mich würde hier niemand finden. Gleich die erste Gruppe von Leuten, die mir verdächtig vorkam, stellte sich auch gleich als Glückstreffer heraus. Gedacht, gesucht und gleich gefunden, dass muss man als gutes Omen verbuchen. Die Wartezeit und der Flug wurden natürlich zum gegenseitigen Kennenlernen genutzt. Unsere kleine siebenköpfige Delegation ließ schon nach den ersten Gesprächen darauf schließen, dass es allein schon von unserer Konstellation her eine sehr interessante Reisen wird. Da alle Beteiligten aus den unterschiedlichsten Bereichen und Institutionen kamen und dazu noch völlig verschiedene Absichten oder besser gesagt Aufträge hatten, versprach die Reise interessante Einblicke in andere Projekte.

Die Themen unserer Reisegruppe will ich hier kurz anreißen: Jugendaustausch und Ferienprogramme, Internetgestützte Kooperation mit Jugendlichen, Flüchtlingshilfe, Interkulturelle Projektkoordination in Charkow, Aufbau ambulanter Versorgungsstrukturen, Aufbau ehrenamtlicher Strukturen in der Zivilgesellschaft, Projektaufbau zu Aufarbeitung geschichtlicher Themen mit Jugendlichen. In meinem Fall ging es um die Kooperation mit einer Schule und späterem Schüleraustausch.

Nach zweistündigem Flug landeten wir am Abend in Kiew. Mit einem Bus ging es vom Flughafen in das Hotel Ukraine, welches direkt am Maidan liegt. Ungeachtet dessen, dass man, und hier kann ich nur mein Befinden beschreiben, in eine ganz neue Welt gereist ist, hatte dieses Hotel  eine eigenartige und besondere Rolle bei der Maidan Revolution. Früher das Hotel für die „Upper-Class“ aus Russland, vor einem Jahr noch Versteck oder Hinterhalt für Scharfschützen und heute ein Hotel, das den sowjetrussischen Scharm der 70iger Jahre versprüht. Bei nicht allzu vielen Gästen erinnerte es auch irgendwie an den Stephen King Roman „Shining“.

Schnell einchecken und dann auch schon zu unserem ersten Treffen mit zwei Vertretern der deutschen Botschaft. Beim Abendessen bekamen wir tiefere Einblicke in die politische und gesellschaftliche Situation in der Ukraine. Hier möchte ich ein kleines Beispiel dafür geben, mit welchen politischen Einflüssen das Land intern zu kämpfen hat und in wieweit sich dies auf die Entwicklung auswirkt. Verdeutlichen lässt sich dies sehr gut an dem Einfluss der Oligarchen. Diese üben seit der Ablösung der Ukraine und dem Zusammenbruch der UDSSR einen großen Einfluss auf verschiedene Gebiete des Landes aus. Ihre Reichtum und ihre Macht beruht darauf, dass sie die Kontrolle über die Bodenschätze, Medien, Wirtschaft und Infrastruktur besitzen. Ihnen gehören Fußballclubs, sie bauen die Stadien in denen diese spielen, sie organisierten somit auch die EM 2012 mit und sie nehmen politische Ämter ein. Man kann zur Zeit schlecht einschätzen, auf welcher Seite sie stehen. Konnte man früher noch sagen, dass die Oligarchen im Osten des Landes eher der russlandfreundlichen Partei des ehemaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch, jene der Westukraine seines Vorgängers Wiktor Juschtschenko und der ehemaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko zugewandt waren, so ist es heute nicht mehr so leicht zu unterscheiden. Je nach Interesse können sie die auch wechseln. Igor Kolomojskyj, einer der einflussreichsten Oligarchen liefert hier ein gutes Beispiel. Ende März diesen Jahres wurde er seines Amtes als Gouverneur enthoben, worauf er wiederum den Firmensitz der Firma die sämtliche Ölpipelines kontrolliert mit Soldaten besetzen ließ. Kurze Zeit später sperrte die von ihm kontrollierte Privatbank sogar ein Konto des Präsidenten. Eine Machtdemonstration des Oligarchen und ein gefährliches Spiel für den Präsidenten. Denn Herr  Kolomojskyj hat mit seiner Privatarmee wesentlich dazu beigetragen, dass die Separatisten an einem weiteren Vormarsch im Osten gehindert wurden, was ihm großen Zuspruch in der Bevölkerung einbrachte. Dieses Beispiel schildert für mich sehr gut die Vielzahl von Einflüssen, die in der Ukraine an der Macht zerren und Neuerungen blockieren, um alte Strukturen und Verhältnisse aufrecht zu erhalten.

Unser Abend brachte noch vielmehr Einblicke und Eindrücke die bestimmt nicht nur die offiziellen spiegelten. Gegen Mitternacht spazierten wir dann in Richtung Hotel. Ziemlich fertig und beindruckt im Hotel angekommen dauerte es wahrscheinlich Millisekunden, bis bei mir die Lichter ausgingen.

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Tag 2 sollte auch gleich wieder in die Vollen gehen. Wir trafen uns um 10:00 Uhr mit unseren beiden Reiseführerinnen, die uns heute den Tag über durch Kiew begleiten sollten. Startpunkt war natürlich der Maidan (Öffentlicher Platz) der ja direkt vor unserem Hotel gelegen war. Da ich mir fast sicher bin, dass ihr nicht wegen meiner literarischen Fähigkeiten diesem Artikel folgt, sondern an politischen Geschehnissen, an gesellschaftlichen Prozessen und Umwälzungen interessiert seid, darf ich davon ausgehen, dass ich nicht mehr über die Vorgänge bei den Protesten berichten muss. Die Bilder hat wohl noch jeder im Kopf, wenn auch schon wieder etwas verblasst. Überall gibt es heute Bilder der Opfer der Maidan-Proteste. Es liegen Blumen und Blumenkränze vor den Bildern und Kerzen beleuchten nachts den gesamten Platz. Der Platz mutet schon sehr feierlich an, was ebenfalls die Bilder zurückruft, die man aus den Nachrichten kennt. Mir war z.B. ein Bild besonders in Erinnerung geblieben, bei dem Demonstranten und Polizisten sich an einer Barrikade gegenüberstehen und im Hintergrund weiße Säulen zu sehen sind. Diese sind der Eingang zum Stadion von Dynamo Kiew. Was jetzt nicht nach einer sonderlich spannenden Geschichte klingt aber 2012 verpasste hier noch Borussia Mönchengladbach den Einzug in die Gruppenphase der Champions League. Knapp eineinhalb Jahre später sieht man brennende Barrikaden und es werden dort die ersten Opfer erschossen und heute sieht man fast nichts mehr – was vielleicht genau der richtige Weg ist, um die Vergangenheit zu bewältigen, einem aber auch wieder die Schnelllebigkeit vor Augen führt, welche die Gesellschaft dort miterlebt. Gerade gegen Abend, wenn das Nachtleben langsam in Fahrt kommt, sieht man eigentlich nur junge Ukrainer auf den Straßen, die Spaß haben wollen, ausgehen usw. oder beispielsweise in der U-Bahn stehen und einfach mal einen paar Liedchen trällern. Auf mich machte das einen sehr entspannten, optimistischen und motivierten Eindruck. Man spürt wie die Leute, gerade die jungen, nach vorn gehen wollen. Die Revolution war gut und wichtig – nun aber bitte nicht still stehen und abwarten – scheint die Devise zu sein.

Nach dem Rundgang ging es für zwei Mitglieder unserer Reisegruppe zu dem Fernsehsender „Ukraine Today“ zu einem Interview, das unter diesem Link zu sehen ist: (https://uatoday.tv/society/exclusive-interview-berlin-officials-seeking-to-support-grassroots-social-change-in-east-ukraine-418522.html).

Für den Rest der Gruppe ging es weiter, um eine Erstanlaufstelle für Flüchtlinge zu besichtigen. Vor dem Eingang, im leichten Schneetreiben bei 3 Grad Celsius über Null, war schon ein kleiner Menschenauflauf versammelt der auf Einlass wartete. Bis auch wir hineinkonnten, warteten wir mit den Leuten geduldig vor dem Tor und ich hätte mich gerne mit den warteten Menschen davor unterhalten. Jedoch stellte sich dort bei mir ein beklemmendes Gefühl ein, was mich davon abhielt jemanden anzusprechen. Die wartenden Menschen kamen aus den umkämpften Gebieten der Ostukraine und suchten dort Hilfe. Sie waren mit dem, was sie tragen konnten, geflohen und standen nun dort ohne recht zu wissen, wie es weitergehen sollte. Nach ca. 45min Wartezeit durften wir dann hinein und uns wurde die gesamte Organisation und die Struktur der Erstanlaufstelle gezeigt und erklärt. Entstanden ist sie in einer Privatwohnung von Maidan-Aktivisten und als erstes wurden von dort aus Kleiderspenden organisiert und verteilt. Als die Hilfsbedürftigkeit der Leute immer größer wurde und ihre Anzahl immer weiter stieg, musste ein Gelände und größeres Gebäude gefunden werden. Dies wurde in der Innenstadt auch geschafft, ist aber jetzt schon wieder viel zu klein. Eine solche Anlaufstelle bedarf einer gut durchdachten Struktur und einer menge ehrenamtlicher Helfer, um dem Ansturm von Flüchtlingen standzuhalten. Zuerst werden die Menschen registriert, auch um zu vermeiden, dass Leute sich Hilfsgüter doppelt abholen. Jeder Neuankömmling erhält eine Erstversorgung an Lebensmitteln und Kleidung (auch Soldaten kleiden sich hier teilweise für ihre Einsätze ein). Des weiteren gibt es die Möglichkeit dort eine warme Mahlzeit und Tee zu bekommen (täglich bis zu 200 Liter Suppe und 300 Liter Tee). Um sich irgendwie eine Wohnung zu beschaffen oder um einen Job zu finden gibt es dort einen Internetzugang (zwei alte Laptops in einem VW Bus). Ebenso ist eine ärztliche Notversorgung eingerichtet, welche aber noch ausbaufähig ist, denn die Ärzte, die dort hinkommen, machen das nach ihren eigentlichen Jobs in Krankenhäusern und ihren Praxen und es ist nicht immer sicher, dass dort abends auch wirklich ein Arzt auftaucht. Dies alles befindet sich in ausgedienten Armeezelten und provisorischen Gebäuden (das letzte aus Paletten zusammengebaut). Hinter diesem ganzen steht ein gewaltiger Aufwand der ausschließlich von Freiwilligen bewältigt wird, die dies aus reiner Überzeugung tun. Ich finde diese Tatsache sehr überwältigend und beim Abschied fehlten mir die Worte.

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Unser „Stadtspaziergang“ führte uns noch zu einigen Kirchen, Plätzen und Gebäuden, die alle eine mehr oder weniger historisch wichtige Bedeutung hatten und sollte den Abschluss im „Holodomor-Museum“ finden. Holodomor bedeutet wörtlich übersetzt: Tötung durch Hunger. Die Ukraine erlebte mehre Hungersnöte in ihrer Geschichte, die Millionen von Toten forderten und als Völkermord angesehen werden darf. Die schwerste fand in den Jahren 1932/33 statt und wurde durch den damaligen Diktator Salin ausgelöst, der horrende Getreideabgaben (65% des Gesamtertrags) forderte und somit die Bevölkerung verhungern ließ. Eine US-Hilfsorganisation sammelte damals in Amerika und Europa Hilfsmittel ein, um den Hunger dort etwas zu lindern. Das Museum zeigt die Organisation dieser Hilfen und wie wichtig dies für die Menschen war. Sie lässt aber auch völlig außer acht, dass diese Organisation von der US Regierung gesteuert war und nicht nur aus rein humanitärer Hilfe sich dort engagierte. Eine etwas objektivere Herangehensweise an diesen Teil der Geschichte hätte ich wesentlich interessanter gefunden.

Zum Abschluss dieses Tages trafen wir beim Abendessen einen Jurastudenten, der sich in der Flüchtlingshilfe engagiert und uns von seiner Arbeit berichtete. Eine Gruppe von Jurastudenten stellte sich die Frage, wie sie den Menschen in den besetzten Gebieten im Osten und den Flüchtlingen helfen könnte. Ergebnis dieser Überlegungen war, das sie den Menschen am ehesten damit Helfen könnten wenn sie ihnen in Juristischen Fragen weiter helfen konnten, denn dies gab es bisher noch in keiner Art und weise. Durch die chaotischen Zustände nach der Revolution und dem völligen Zusammenbruch der staatlichen Strukturen durch den Einmarsch der Separatisten in Osten, gab es keinerlei Möglichkeiten für die Menschen, sich in diesen Fragen irgendwo Hilfe zu holen. Die Idee der Studentengruppe war nun eine Telefonhotline einzurichten, bei der die Menschen sich genau diese Informationen holen konnten. Auch hier steckt ein gewaltiger Aufwand dahinter und auch dort engagieren sich ausschließlich ehrenamtliche Studenten. Wieder ein Beispiel für die riesige Hilfsbereitschaft die in der Bevölkerung zu spüren ist und wieder getragen durch Studenten die nicht älter als 25 Jahre sind und bis in die Haarspitzen motiviert.

Im Hotel angekommen brauchte ich dann wieder nur Millisekunden …

Unser letzter Tag in Kiew, bevor es nach Charkow weitergehen sollte, begann etwas ruhiger. Um 9 Uhr stand ein Besuch im Kulturministerium auf dem Programm welches auch für Bildung zuständig ist. Nach einem anfänglichen lockerem Informationsgespräch gestaltete dies im verlauf etwas schwieriger. Zwischenzeitlich saßen beide Seiten mit der Frage im Kopf gegenüber „Was wollen wir hier eigentlich voneinander“, das war in jedem Fall bei mir der so und wie ich später hörte war ich nicht der einzige der sich diese Frage stellte. Erst später klärte sich diese Frage auf, denn als uns erklärt wurde das wir Projekte und Kooperation doch erst einmal zum laufen gebracht werden sollten und dann erst im Ministerium abgesegnet werden, war uns/mir einfach nicht bewusst. Diese Arbeitsweise, man beginnt „unten“ und bringt das Ergebnis dann nach „oben“ ist etwas anders angelegt als bei uns. Hierzulande läuft es ja nun eher etwas anders … eine sehr wichtige Erkenntnis.

Vom Kulturministerium fuhren wir direkt zu Bahnhof denn um 13 Uhr sollten wir schon im Zug Richtung Charkow sitzen. Zum Abschluss, denn wir sollten ja nur noch auf dem Rückweg für eine Nacht in Kiew Station machen, kann ich nur sagen das von der Architektur her, den Sehenswürdigkeiten, der Stimmung und den Menschen her eine der Beeindruckensden Städte in Europa ist die ich bis dahin gesehen habe. Ich bin dort in eine völlig andere Welt geschlüpft die von ihren Eindrücken her noch sehr lange begleiten wird.

Im dritten und letzten Teil meiner kleinen Berichterstattung wird es darum gehen was wir in Charkow erlebt haben. Ich möchte da nun wirklich nichts vorwegnehmen, da dort für mich die Konkrete Arbeit an meinem Auftrag in Sachen Kooperation beginnen sollte …

Henning Gnau
Ergänzende Förderung und Betreuung an der 10. ISS

Teil 3 erscheint in Kürze an dieser Stelle.

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