annaschmidt-berlin.com_die-frau-auf-der-bankZuhause, wenn wir uns zum Essen an den großen Tisch setzen, hat jeder von uns seinen Stammplatz. Das ist nicht gewollt und hat sich mit der Zeit ergeben. Von meinem Stuhl aus schaue ich genau auf den kleinen Platz vor unserem Haus. An beiden Seiten der Wiese des Platzes steht jeweils eine Bank und ich kann die linke der beiden beobachten. Viel ist dort nicht los, aber hin und wieder sitzt jemand auf der Bank und ruht sich etwas aus. Vor kurzem saßen wir an einem Sonntag beim Frühstück und unterhielten uns. Aus dem Augenwinkel, ohne dem Aufmerksamkeit zu schenken, nahm ich wahr, dass sich eine Frau auf die Bank setzte. Wir beendeten das Frühstück nach einiger Zeit. Ich räumte den Frühstückstisch auf und schaute danach wieder aus dem Fenster. Sie saß immer noch dort – die Frau auf der Bank.

Ich bin mir nicht ganz sicher, warum mir gerade diese Frau auffiel. Ich schätzte sie über 50 Jahre. Sie war vollständig mit einem hellblauen Gewand gekleidet – einem hellblauen Mantel und hellblauen Kopftuch, das über die Schultern ging. Das Gesicht, die Hände und Schuhe waren frei. Sie saß alleine dort und bewegte sich kaum. Es war ein schönes und ruhiges Bild, was an diesem Sonntag und in den darauf folgenden Tagen bis heute nicht mehr aus meinem Kopf ging. Auch eine Stunde später saß sie dort, zwei weitere Stunden später und bis in den frühen Nachmittag hinein. Mal saß sie auf der rechten Seite der Bank, mal links. Mal saß sie mit überkreuzen Händen dort, mal hatte sie die Ellenbogen auf den Knien und stützte den Kopf oder legte die Hände seitlich auf die Bank. Mehr Bewegungen gab es nicht. Es war ein schönes und ruhiges Bild und doch war es traurig, aber es zog mich immer wieder an und ich schaute öfter, ob sie noch dort sitzt.

Mehr als das, was ich gesehen habe, weiß ich nicht über sie. Ich weiß nicht wie sie heißt oder woher sie gekommen ist. Auch nicht wohin sie ging. Ich vermute, dass sie aus einem fremden Land kam, sonst hätte sie nicht eine solche Tracht getragen. Ich weiß nicht, was sie dazu bewogen hat einen ganzen Sonntag auf einer Bank im Sonnenschein zu verbringen. Und gerade das lässt mich immer wieder an sie denken. Was hat sie gedacht, woran hat sie sich erinnert, was hat sie beschäftigt. 

Was hat sie erlebt? Ich nehme an, dass sie in der Erstaufnahme-Einrichtung an unserer Ecke wohnt. Die Menschen, die dort leben, kommen aus den unterschiedlichsten Ländern. Alle haben einen weiten Weg hinter sich. Alle haben Geschichten hinter sich, die sie berechtigen, von einer Notunterkunft in eine Erstaufnahme-Einrichtung zu wechseln. Das bedeutet, sie sind geduldet in unserem Land. Um geduldet zu sein, muss man Gründe haben oder Geschichten erlebt haben, die alles andere als angenehm, eventuell sogar existenzgefährdend oder lebensbedrohlich sind. Sie sind geduldet – das bedeutet auch, dass sie nicht wissen, wie die Zukunft aussehen wird. Es sind Menschen, die nur von einem Tag auf den anderen leben und planen können. Die sich mit den Gegebenheiten in der Einrichtung arrangieren müssen, ganz gleich ob im Nebenzimmer vielleicht sogar Menschen aus einem verfeindeten Land leben. Sie müssen warten bis unsere Behörden reagieren und ihnen vielleicht zugestehen, dass sie länger bei uns leben dürfen. Sie sind auf andere Menschen angewiesen, die ihnen vorschreiben, ob und wie ein Neuaufbau ihres Lebens möglich wird. Sie dürfen nicht über ihr eigenes Fortkommen entscheiden. Sie müssen aushalten … jeden Tag aufs neue. Die Vorstellung, meine persönlichen Geschicke von anderen entscheiden lassen zu müssen, macht mich wütend!

Welchen Weg hat sie genommen? Ist sie alleine oder mit ihrer Familie zu uns gekommen. In welchem Land hat diese Reise begonnen und was hat sie erlebt, das sie zu dieser Reise gezwungen war? Waren es nur Landwege oder musste sie auch über das Wasser? Das Meer, in dem auch in diesem Sommer so viele Menschen ertrinken. Das gleiche Meer, das uns im Sommer so viel Freude machte. Hat sie erlebt, wie Menschen ertranken? Musste sie an versperrten Grenzen und in trostlosen Lagern warten? War sie auf menschenverachtende Schlepper angewiesen, die ihr und ihrer Familie das letzte Geld abnahmen? Was hat sie gefühlt, als sie doch unsere Grenze erreichen und einreisen durfte? Wie wurde sie bei uns aufgenommen? Ich bin mir sicher, dass ihre Reise keine angenehme war – eine Reise, an deren Ende keiner weiß, wie das Leben weitergehen wird. Allein die Vorstellung alles hier und heute liegen zu lassen und zu wissen, dass ich es nie wieder so sehen werde, macht mir Angst!

Wo ist ihre Familie? Warum sitzt sie einen ganzen Tag alleine auf einer Bank. Ist es in der Unterkunft so eng und laut, dass sie einfach ein paar Stunden Ruhe braucht oder ist sie überhaupt allein? Konnte sie mit der ganzen Familie hierher kommen oder musste sie geliebte Menschen zurücklassen? Hat sie im Krieg in ihrem Land schon den Mann, den Sohn oder Töchter verloren? Was denkt sie bei der Vorstellung nie wieder auf dem heimischen Markt ihre Nachbarn und Bekannte zu treffen. Wie geht es ihr, wenn sie hier beim Einkauf im Supermarkt argwöhnisch betrachtet wird? Hat sie jemanden hier mit dem sie zusammen lachen kann? In den südlichen Ländern hat Familie eine ganz andere Bedeutung und Zusammenhalt als bei uns. Trotzdem graut mir vor dem Gedanken auf irgendeinen von meinen liebsten Menschen verzichten zu müssen!

So könnte ich lange weiter hinterfragen und versuchen zu ergründen, was in dieser Frau vorging. Dachte sie eher an die Vergangenheit oder an die Zukunft? Ich werde es nie erfahren. Trotzdem war sie für mich mehr, als nur eine Frau auf einer Bank. Sie war Anlass, mir wieder und wieder über die Menschen Gedanken zu machen, die zu uns kommen. Menschen, die ganz gleich aus wirtschaftlicher Not oder lebensbedrohlichen Umständen hierher zu uns fliehen. Sie war Anlass, mir selber deutlich zu machen, welchen Luxus ich erleben darf und auf welchem Niveau ich zuweilen klage. Sie macht mir gerade in diesen Tagen klar, wie absurd es ist über ein Burka oder Burkini-Verbot zu streiten und statt dessen lieber die Frau in den Mittelpunkt gerückt werden müsste, die solche Trachten trägt. Das Bild dieser Frau, liebe Freunde mit rechten Gedankengut und ihr besorgten Bürger, hat mich insofern bedroht, als das es mich zwang darüber nachzudenken, mit welch abfälligem Niveau und wie oberflächlich wir mit Fremden umgehen.

Ich habe mich später sehr über mich geärgert. Irgendwann hätte ich hinüber gehen sollen und ihr wenigstens etwas zu trinken anbieten können. Habe ich leider nicht – weil sie so fremd aussah? Am späten Nachmittag ging ich mit meinem Mann und dem Hund aus dem Haus. Im Weggehen schaute ich über die Straße. Sie hob den Kopf und lächelte mich an. Ich war dankbar – sie hatte zumindest ihr Lächeln nicht auf dem langen Weg verloren und mir einen winzigen persönlichen Moment geschenkt. Als wir wiederkamen war die Bank leer. Das Bild dieser Frau ist bis heute geblieben.  

Anna Schmidt
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

Erschienen am 25. August 2016 im Blog „Bunt und farbenfroh …