10_iss_61 Kennen Sie den Film „Fack Ju Göhte“? Dies ist ein Film über einen Mann, der anfängt, als Lehrer mit Jugendlichen an einer Sekundarschule zu arbeiten, ohne Lehrer zu sein. Er durchlebt eine harte Zeit, gelangt an die Grenzen des Wahnsinns und droht, im Chaos zu versinken. Dieser Angriff auf die Nerven des Mannes war beim Zusehen ein noch größerer auf meine Lachmuskeln. Und gleichzeitig fragte ich mich: Wie könnte man diesen Job nur freiwillig machen? Aus welchem Holz muss man geschnitzt sein, um einer Arbeit in diesem Bereich nachzugehen?

Ich hatte mich entschieden, meinem lang gehegten Wunsch, praktisch im sozialen und pädagogischen Bereich zu arbeiten, nachzugehen und meine bisherige Arbeit im Büro aufzugeben. Ich wollte, zwar ohne pädagogische Ausbildung, dafür aber mit vielen praktischen Erfahrungen, beruflich einer sozialen Tätigkeit nachgehen. Gefüttert mit den Eindrücken aus dem Film machte ich mich also auf zum Gespräch in die Geschäftsstelle des Stadtteilzentrum Steglitz. Meine bisherigen Eindrücke von der Arbeit mit Kindern würde ich vielleicht vertiefen, oder aber auch neue Erfahrungen im Umgang mit Seniorinnen und Senioren sammeln können. Auf gar keinen Fall aber würde ich mit hormonell stark beanspruchten Jugendlichen über den maßlosen Gebrauch von Smartphones diskutieren. Und auch nicht über das Ersetzen von dringlich empfohlener, pädagogisch wertvoller Fachliteratur durch Glätteisen und iPods in den Taschen. Niemals. Dachte ich. Als ich nach dem Gespräch auf die Straße trat, war ich um eine Erkenntnis reicher: Komfortzonen sind dafür da, um aus ihnen heraus zu treten. Ich würde also künftig pädagogisch unterstützend im Ganztagsbereich einer Sekundarschule arbeiten.

10_iss_60 Am ersten Arbeitstag war ich etwas aufgeregt, aber vor allem gespannt darauf, was auf mich zukommen würde. Zu meiner großen Begeisterung fand ich mich in einem sympathischen und vielfältigen Team wieder, das mich herzlich empfing und mir eine Sicherheit gab, die mich bestärkte. Und dann ging es los. Jüngere und ältere Jugendliche überall, gnadenlose Turniere im Tischtennis-Raum, unbeeindruckte Blicke beim Poker, verhedderte Kopfhörer, Schulranzen überall, der letzte Basketball vergriffen. Heldenhafte Szenen beim Kickern, spannende Quiz-Duelle im Kreativ-Raum. Flashmobs wurden geprobt, Kunstwerke landeten im Müll oder an der Wand. Ich war überrascht – hier beschäftigten sich ganz normale Mädchen und Jungen mit Dingen, die Mädchen und Jungen eben tun. Was hatte ich auch erwartet? Keine Spur von Wahnsinn oder Chaos.

Seither hatte ich viele interessante Erlebnisse. Immer wieder wurde ich von Schülerinnen und Schülern überrascht und beeindruckt. Oftmals hatte ich im Vornherein bestimmte Vorstellungen über Personen oder Ereignisse, die dann vollkommen über den Haufen geworfen wurden. Natürlich dauerte es nicht lange, bis ich mit Einzelschicksalen konfrontiert wurde, die mich nachdenklich stimmten. Manche ließen mich fragen, wieso es so schwierig ist, Chancengerechtigkeit in der Bildungslandschaft zu erreichen und allen jungen Menschen die gleichen Möglichkeiten zu geben. In anderen Situationen drängten sich mir Gedanken darüber auf, was in der Welt nur schief läuft, dass Kinder erleben müssen, was selbst für Erwachsene kaum zu verkraften ist. Diese Dinge gehören zu den echten Herausforderungen meiner Arbeit.

10_iss_62 Ich versuche in allen Situationen, nichts persönlich zu nehmen und Mitgefühl von Mitleid zu trennen. Denn manchmal bin ich nun mal die nervige „Sozialarbeiterin“, die gemerkt hat, dass am Laptop statt der Mathe-Hausaufgaben gerade ein ziemlich kniffliges Level im spannendsten Computerspiel aller Zeiten gelöst wurde. Manchmal bin ich auch völlig unvermittelt Zuhörerin von Geschichten, die ich empathisch verfolge, aber lieber nicht mit nach Hause nehmen möchte. Ich glaube, dass Mitgefühl dem Gegenüber das Gefühl gibt, verstanden zu werden und nicht mit dem Erlebten allein zu sein. Mitleid hingegen grenzt den Zuhörer vom anderen ab. Soweit die Theorie, auf die man sich in der Praxis ja nie so richtig verlassen kann. Glücklicherweise kann ich mich jederzeit an Jemanden aus dem engagierten Team wenden, der mir Rückhalt und fachliches Hintergrundwissen gibt. Nicht zuletzt habe ich mich nämlich für diese Arbeit entschieden, um möglichst viel über meine Mitmenschen und psychologische Aspekte des Zusammenlebens zu lernen. Ich möchte beispielsweise wissen, wie Konfliktsituationen entstehen und welche Strategien es gibt, sie konstruktiv zu lösen. Ich möchte verstehen, welche Einflüsse wie stark auf die menschliche Entwicklung einwirken.

Neben diesen Zielen möchte ich Spaß haben – an der Arbeit mit jungen Menschen und vor allem mit ihnen. Denn ich komme nicht umhin festzustellen, dass viele Situationen in der „Ergänzenden Förderung und Betreuung“ schon ihre ganz eigene, wenn auch manchmal unfreiwillige Komik besitzen. Als Erwachsener kann man nämlich noch einiges von Jugendlichen lernen. Zum Beispiel weiß ich jetzt, dass es sich mit der Unterstützung ohrenbetäubender Electro-Beats am besten Fenster putzt, bevor die Weihnachtsdekoration angebracht wird. Und ich wurde zum Glück darauf hingewiesen, dass es gut wäre, dem Training meines Trizeps‘ eine etwas höhere Beachtung zu schenken.

10_iss_59 Im Film, um den es anfänglich ging, wächst der vorerst unglückselige Mann über sich hinaus und wird durch seine Erlebnisse immer reicher an Erfahrungen, bis er zum Schluss sogar doch noch Lehrer wird. Ganz freiwillig sogar. Auch für mich war eine Ausbildung oder ein Studium im sozialen Bereich nicht denkbar, bevor ich mit meiner Arbeit im Stadtteilzentrum begann. Schließlich habe ich schon einmal studiert. Und nun noch mal alles auf Anfang? Warum eigentlich nicht. Die Tätigkeit in der Sekundarschule hat mich nachhaltig geprägt und tut dies weiterhin. Ich weiß jetzt, wie sich Arbeit eigentlich anfühlen sollte. Wenn man traurig ist, weil Ferien sind, es keine Schülerinnen und Schüler zu betreuen gibt und man deswegen Urlaub hat. Wenn man morgens dem Wecker zuvor kommt und sich darauf freut, wieder zur Arbeit zu gehen. Und wenn die Zeit wie im Flug vergeht. So möchte ich zukünftig arbeiten.

Senta Günther
EFöB an der 10. ISS