Foto: ©-Christian-Schwier-Fotolia.com

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… und ihre Auswirkungen auf die Kinder“

Seit fast zwei Jahren arbeite ich in einer offenen Ganztagsgrundschule in Lichterfelde Ost. Ich bin sowohl als unterrichtsbegleitende Erzieherin im Vormittagsbereich als auch als Erzieherin der Ergänzenden Förderung und Betreuung im Nachmittagsbereich tätig. Als pädagogische Unterstützung bin ich Lehrerinnen der jahrgangsübergreifenden 1./2. Klassen zugeteilt.

Die ohnehin schon vorhandene Heterogenität der Kinder bezüglich ihres Alters wird durch die in Berlin praktizierte Früheinschulung sowie die Möglichkeit des Verweilens der Kinder entweder im ersten oder zweiten Schuljahr noch verstärkt. So waren bei uns in der Klasse die Kinder zu Beginn des Schuljahres 2013/14 zwischen fünf und acht Jahren alt. Ich bin eine große Anhängerin der Jahrgangsmischung an den Berliner Schulen. Ich sehe viele Vorteile für die Kinder, wenn verschiedene Altersstufen gemeinsam unterrichtet werden. Allerdings setzt diese Praxis meines Erachtens eine „Schulreife“ der Kinder voraus, welche – der frühen Einschulung zum Teil erst fünfeinhalbjähriger Kinder geschuldet – aber bei immer mehr Kindern fehlt. Mit dieser bewusst provokant formulierten These, möchte ich vor allem meine Unzufriedenheit mit der Berliner Bildungspolitik ausdrücken. Immer wieder werden politische Entscheidungen getroffen, die sowohl Pädagogen, als auch Eltern und Kinder vor enorme Herausforderungen stellt – mit der Umsetzung werden sie dann allerdings oft allein gelassen.

Meiner Ansicht nach führt die frühe Einschulung der Berliner Kinder in vielen Fällen dazu, dass diese im ersten oder zweiten Schuljahr verweilen (früher hätte man gesagt, sie bleiben sitzen). Was waren die vom Berliner Senat angebrachten Argumente, die dazu führten, dass seit dem Jahr 2005 alle Kinder eines Jahrganges in Berlin eingeschult werden (auch können Eltern eine Einschulung bis zum 31. März des Folgejahres beantragen, in dem das Kind sechs wird)? Im Gegensatz dazu steht die in allen anderen Bundesländern weiterhin praktizierte Regelung das bis zum 30. Juni/30. September des Jahres der Einschulung sechs Jahre alt gewordene Kinder eingeschult werden. Damit hat Berlin die jüngsten Schulanfänger der Bundesrepublik.

Wieso hat der Berliner Senat zum Schuljahr 2005/2006 die Früheinschulung fünfjähriger Kinder eingeführt? Die vorgebrachten Argumente, die für eine Früheinschulung seitens des Senates sprachen, waren dem Pisaschock des Jahres 2001 geschuldet. In Berlin wurde die Früheinschulung als Ausweg aus der durch die Pisastudie offenbar gewordene Bildungsmisere angesehen. Die frühe Einschulung, so die Idee, würde zu einer besseren Förderung von Kindern aus bildungsfernen Milieus führen.

Weder wurde diese schulpolitisch getroffene Entscheidung im Vorfeld den Berliner Eltern zur Abstimmung vorgelegt, noch wurde sie bis zum heutigen Zeitpunkt wissenschaftlich evaluiert. Vielmehr zeichnet sich seit Jahren eine steigende Ablehnung der Früheinschulung bei den Eltern betroffener Kinder und den Grundschullehrern ab. Somit herrscht ein Dilemma zwischen der Intransparenz durch die politischen Entscheidungsträger und ihrem Festhalten an dieser Strukturentscheidung auf der einen sowie zunehmender Rückstellungsanträge durch die Eltern und Klagen der LehrerInnen bezüglich steigender Zahlen von „unbeschulbaren Kindergartenkindern“ andererseits – und die Leidtragenden sind die Kinder. So hat in den letzten Jahren die Zahl der Kinder, die nicht in die dritte Klasse versetzt wurden – den mittlerweile sogenannten Verweilern – stetig zugenommen. Wenn man sich dazu ansieht, dass es die meisten Verweiler in den Bezirken Neukölln, Mitte, Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg gibt (https://www.tagesspiegel.de/berlin/grundschulen-schulanfaenger-bleiben-auf-der-reform-sitzen/7323350.html), fragt man sich, wie es eigentlich um die vom Senat angeführte bessere Förderung von Kindern aus bildungsfernen Familien durch die Früheinschulung steht.

In meiner Arbeit habe ich in diesem und dem letzten Schuljahr einige Kinder kennen gelernt, die zum Zeitpunkt der Einschulung zwischen 5,5 und 6 Jahren alt waren. Da Verallgemeinerungen immer zu kurz greifen und es immer Ausnahmen von der Regel gibt, sind meine Beobachtungen natürlich auch rein subjektiv. Es gibt Kinder, die als Kann-Kinder sogar mit 5,5 Jahren eingeschult wurden und die nicht zu „jung“ waren. Aber bei vielen Kindern habe ich beobachtet, dass sie das System Schule vor enorme Herausforderungen stellt und ihre vorhandenen sozialen als auch körperlichen Ressourcen dort an Grenzen stoßen, die im Endeffekt dazu führen, dass die Lehrer überfordert, die Eltern unzufrieden und die Kinder unglücklich sind. Meines Erachtens sind Grundvoraussetzungen für die Schulreife von Kindern deren ureigenes Interesse an Buchstaben und Zahlen, sich ca. 20 min konzentriert einer gestellten Aufgabe widmen zu können sowie die Fähigkeit sich auf neue Situationen, Menschen und Herausforderungen einstellen und angemessen reagieren zu können. Wenn fünfjährige Kinder dagegen gar keine oder eine geringe Eigenmotivation zeigen lesen oder rechnen zu lernen, sich schwer auf neue Herausforderungen einlassen oder soziale Kontakte knüpfen können, würde ich ihre Schulreife in Frage stellen. Wieso sollte ein sowohl qualitativ als auch quantitativ mit gutem (Fach-)Personal ausgestatteter Kindergarten die schlechtere Alternative für ein fünfjähriges Kind sein sich zu entwickeln als die vorgezogene Einschulung? Wieso wurde nicht früher in eine bessere finanzielle, personelle und ideelle Ausstattung des Elementarbereichs investiert, anstatt die Früheinschulung verpflichtend einzuführen ohne die Konsequenzen für die Kinder zu bedenken?

Mittlerweile hat die Berliner Bildungsverwaltung – wenn auch langsam und meines Erachtens unzureichend – begonnen auf die wachsende Kritik hinsichtlich der Früheinschulung zu reagieren. Seit einigen Jahren ist es möglich die Kinder ein Jahr von der Schulpflicht zurückstellen zu lassen. Dies passiert auch immer häufiger. So wurden in Berlin vor Beginn des Schuljahres 2013/14 13,2 % der Kinder zurückgestellt. Allerdings war die Zurückstellung bisher nur auf Antrag und durch den Schularzt festgestellt möglich. Auch hier hat die Politik reagiert – ab dem Schuljahr 2014/15 wird die Praxis der Früheinschulung weiter gelockert. Zwar wird am 31. Dezember als Stichtag festgehalten. Allerdings können die Eltern von nun an selbst entscheiden, ob ihr Kind schulreif ist. Es reicht in Zukunft aus, auf dem Anmeldebogen der Grundschule ein Kreuzchen zu machen, möchte man sein nach dem 30. Juni geborenes Kind von der Früheinschulung entbinden.

Susan Riedel
Erzieherin in der EFöB der Giesensdorfer Schule