imme_25_Leitartikel Wir erleben eine Zeitenwende in der gesellschaftlichen Kommunikation. Dieser Prozess geht schon ziemlich lange, auch wenn unsere Kanzlerin diese Thematik immer noch für „Neuland“ hält – was im Grunde ein Symptom für die dahinterstehende Problematik ist.

Denn die Zeitenwende vollzieht sich zwischen den Generationen. Vielen älteren Menschen fällt es immer noch schwer, die Tatsache zu akzeptieren, dass die Kinder und Jugendlichen von heute in einer Welt aufwachsen, in der Handys und Tablets ein selbstverständlicher Bestandteil ihrer Lebenswirklichkeit sind. Und noch beängstigender – auch für viele pädagogische Facharbeiter – ist der Umstand, dass die jungen Leute diese Lebenswirklichkeit nicht hinterfragen. Sie nutzen sie einfach. Sie gehen auf Facebook und scheren sich weder um Zuckerberg noch um Foto-Missbrauch. Sie chatten miteinander, obwohl sie sich oftmals im gleichen Raum befinden und problemlos auch „richtig“ reden könnten. Sie mäandern zwischen den unterschiedlichsten Videos und Botschaften umher, immer auf der Suche nach dem nächsten Kick, den Aufreger der letzten Woche längst vergessend.

Ich habe einen Kollegen, der den sogenannten „neuen Medien“ in höchstem Maße skeptisch gegenübersteht. Wenn man das Wort „Facebook“ auch nur erwähnt, regt er sich tierisch auf über Leute, die „jeden Stuhlgang posten und dafür Likes“ kassieren wollen. Bei dem Gedanken daran, dass die Kids womöglich Tablets in der Schule nutzen, um Referate zu recherchieren und zu erstellen, bekommt er fast schon Schnappatmung.

Ich arbeite im offenen Kinder- und Jugendbereich und leite in diesem Umfeld auch eine umfassende Hausaufgabenbetreuung. In diesem Arbeitsfeld habe ich die strikte Ablehnung der „neuen Medien“ schon sehr oft erfahren. Vor allem, wenn ich von einigen Vorstellungen erzähle, die ich so habe – Kostprobe gefällig?

• Ich wünsche mir, dass die Schüler und Schülerinnen kein einziges Buch mehr in die Schule schleppen müssen, sondern alles an Lehrstoff auf ihrem eigenen Tablet aufrufen können.

• Ich wünsche mir, dass alle Lehrer und Lehrerinnen mit den pädagogischen Facharbeitern des Nachmittags über ein soziales Netzwerk vernetzt sind, um Absprachen und Informationen zeitnah und individuell verfolgen zu können.

• Ich wünsche mir, dass es Elternbriefe, Flyer oder Info-Schreiben nicht mehr gibt, sondern dass alles über eine App mit den Eltern kommuniziert wird.

Glauben Sie mir: Es gibt Leute, die mich wegen solcher Vorstellungen für einen Feind kindgerechter Pädagogik halten. Aber natürlich sehe ich das ganz und gar nicht so. Ich versuche vielmehr, die Zeichen der Zeit zu erkennen und das zu tun, was immer schon mit neuen und gesellschaftsverändernden Erfindungen passiert ist: Nach einer Phase des Ausprobierens und auch der Fehler sollte man anfangen, die Stärken und Schwächen jeder Veränderung zu erkennen und das Neue dann so zu nutzen, dass es sinnvoll und bereichernd ist.

Natürlich möchte ich, dass die Kinder richtig und auf Papier schreiben lernen. Aber warum man ihnen schon in der Grundschule Taschen auf den Rücken bindet, die aufgrund des Büchergewichtes schwerer sind als sie selbst, erschließt sich mir nicht. Warum nicht die neue Technik nutzen? Bücher sind etwas Wunderbares, aber sie werden nicht verschwinden, so wie ja auch Vinyl-Schallplatten trotz der Erfindung der CD nicht verschwunden sind. Als der Buchdruck erfunden wurde, haben wir ja auch nicht aufgehört, zu sprechen.

Als Leiter einer Hausaufgabenbetreuung habe ich sehr gute Erfahrung mit Vernetzung gemacht: Zwei aufgeschlossene Lehrerinnen haben mit mir eine – geheime und nicht öffentlich sichtbare – Gruppe in einem sozialen Netzwerk gebildet, wo dann täglich die aktuellen Hausaufgaben und Anmerkungen gepostet wurden. Auch Nachfragen konnte man so einfach stellen. Das Experiment war sehr erfolgreich, da es von allen Beteiligten intensiv und produktiv genutzt wurde.

Aber das genau ist der Punkt: Es nützt nichts, wenn die Möglichkeiten nur sporadisch Einzug in den Alltag halten. Wir brauchen eine breite Debatte darüber, wie man die Vorzüge der neuen Medien sinnvoll und systematisch nutzen kann. Und diese Debatte sollte frei sein von Polemik oder irrationalen Ängsten. Niemand würde bestreiten, dass beispielsweise das Fernsehen sehr schädliche, aber bei sinnvoller Nutzung auch positive Einflüsse auf Erziehung und Weiterbildung haben kann. Und so ist es auch bei den von mir erwähnten Wünschen.

Ich plädiere daher für eine offene gesellschaftliche Diskussion in allen Bereichen der pädagogischen Arbeit, sei es im Lehrerkollegium, in den Elternverbänden oder in der allgemeinen Jugendarbeit. Die Erziehung zur bereichernden Nutzung der „neuen Medien“ sollten wir selber in die Hand nehmen und sie nicht den gewinnorientierten Konzernen überlassen. Wir leben schon im „Neuland“ – jetzt sollten wir uns daran machen, es zu gestalten.

Jörg Backes, Projektleiter
Kinder- und Jugendhaus Immenweg