kieztreff_9 War der Nachbar früher eine Selbstverständlichkeit im gesellschaftlichen Leben der Menschen, muss heute Nachbarschaft durch die Anonymität der Großstädte unterstützt und gepflegt werden. Nachbarn zusammen zu bringen ist der Kern unserer Arbeit in den Nachbarschaftseinrichtungen. Diese Arbeit ist die abwechslungsreichste und vielseitigste Tätigkeit, die wir uns vorstellen können. So individuell die Menschen sind, so individuell sind auch die Begebenheiten, die wir jeden Tag in unseren Einrichtungen erleben.

Wenn unser Arbeitstag in der Einrichtung beginnt, wissen wir nicht, was uns alles erwartet, wer kommt und das Geschehen mit beeinflusst. Unsere Besucher kommen aus allen Altersschichten und Nationalitäten. Die Tür steht allen offen, die Gemeinschaft leben möchten. Es ist sehr interessant zu beobachten, wie sich fremde Besucher an einen gemeinsamen Tisch setzen und Gespräche beginnen. Manchmal recht zögerlich, zaghaft, manchmal aber auch laut und hektisch. Letztlich gewinnt immer das gegenseitige Interesse an unterschiedlichen Lebenswegen, Kulturen und Ansichten.

kieztreff_5 Der „kieztreff“ liegt in Lichterfelde-Süd und ist ein Nachbarschaftstreff mitten in einem Hochhausgebiet.  Dort leben sehr unterschiedliche Menschen mit einem hohen Migrationsanteil. Der Tag (wir zeigen exemplarisch einen Montag) fängt für die Mitarbeiterinnen um 9.00 Uhr an. Die Vorbereitungen müssen getroffen werden bevor die ersten Besucher kommen. Der Cafébetrieb und gegebenenfalls Veranstaltungen müssen organisiert werden. Kaffee und Eier kochen, die Tische fertig machen, Gemüse putzen, Brötchen schmieren. Ist das alles fertig, öffnet um 10.00 Uhr die Tür. Die ersten Besucher warten schon, das Kiezteam trifft sich und in einem zweiten Raum findet der Deutschkurs für ausländische Frauen statt. Gleich volles Haus, denn die ersten Cafébesucher, meist alleinlebende Anwohner, möchten Gesellschaft beim Frühstück genießen und werden auch prompt bedient. In der Mittagszeit kommen uns die Kinder auf ihrem Heimweg von der Schule kurz besuchen. Sie wollen stolz von der Eins in Mathe oder betrübt von der Vier in Englisch berichten und brauchen entsprechend ein gutes Wort. Über den Nachmittag verteilt kommen zahlreiche Mütter mit ihren Kindern zum Nachmittags-Café. Die Mütter suchen den Austausch mit uns und untereinander, genießen den neutralen Raum. Ihre Kinder spielen gemeinsam draußen oder in unserem Spielzimmer, mal mit, mal ohne Anleitung durch uns. Sicherlich können Sie sich das bunte Treiben vorstellen, wo so viele Menschen unterschiedlichster Nationalitäten zusammen kommen. Um 15.30 Uhr kommen die ersten älteren Besucher für den Englisch-Kurs für Senioren. Die Kinder versammeln sich pünktlich um 16.00 Uhr – gespannt, denn die Lese-Inge kommt und liest wieder Märchen und Geschichten vor. In der dunklen Jahreszeit werden auch ab und zu mal Gespenstergeschichten vorgelesen –  ein besonderes Vergnügen für unsere kleinen Besucher. Gegen 17.00 Uhr ist alles wieder an seinem angestammten Platz. Die Mütter und Kinder helfen beim Einräumen des Spielzeugs und der Gartenmöbel. Letzte Aufräumarbeiten in der Küche müssen gemacht werden. Es kehrt Ruhe ein im „kieztreff“. Alle gehen nach Hause und nehmen ihre Eindrücke, Gespräche und Erlebnisse mit. Ruhe bis zum nächsten Morgen, wenn ein neuer Tag im „kieztreff“ beginnt.

kieztreff_7 Dabei haben wir Glück, weil unsere Angebote hauptsächlich von ehrenamtlichen Mitarbeitern geleitet werden. Für jedes Angebot haben wir genau die richtigen gefunden. Unsere Deutschlehrerin hat tatsächlich ‚Deutsch als Fremdsprache’ studiert und unser Englischlehrer ist Amerikaner und Dipl.  Fremdsprachen-Lehrer. Sogar unsere Bastelgruppe, die in Kooperation mit Famos e.V. Berlin angeboten wird, wird ehrenamtlich von einer Erzieherin begleitet und unsere Lese-Inge ist ein „Bücherwurm“, wie man ihn sich nur wünschen kann. Ohne die tatkräftige und liebevolle Unterstützung der Ehrenamtlichen wäre unsere Angebotspalette bei weitem nicht so abwechslungsreich wie jetzt.

Ortswechsel zum Gutshaus Lichterfelde. Es ist ebenso eine Nachbarschaftseinrichtung wie der „kieztreff“ nur mit der Besonderheit, dass im ersten Stockwerk die Kita Schlosskobolde wohnt. Auch hier bestimmt der Cafébetrieb und die zahlreichen Kurse das Geschehen. Und auch hier passieren jeden Tag die kleinen und großen Geschichten, die man alle kaum erzählen kann.

So gingen in die Kita zwei kleine Jungen, Zwillinge, die von zuhause her so erzogen wurden, dass sie kein Schweinefleisch essen. Solche Besonderheiten werden bei uns sehr wichtig genommen und beachtet. Eines Tages saß ich an meinem Schreibtisch. Einer der beiden lief fröhlich an mir vorbei in Richtung Küche. Es kommen viele Kinder vorbei, also habe ich mir gar nichts dabei gedacht. Kurz darauf offensichtlich der Zweite. Ich habe gar nicht richtig registriert, dass es beide Brüder waren. Dann der Schreck – der eine Knirps kam mit vollgestopftem Mund aus der Küche und ließ es sich schmecken. Er hatte sich an unserem Kühlschrank bedient in dem kleine Cabanossis lagen und war mit sich und der Welt zufrieden. Natürlich saß mir der Schreck in den Gliedern, aber irgendwie musste ich auch herzhaft lachen. Die Situation war wie aus einem  Comedy Film und auch die Eltern des Mundräubers konnten es mit Humor nehmen.

Es sind die unscheinbaren  Vorkommnisse, die unsere Arbeit so spannend machen, mal lustig, mal traurig und manchmal jedoch auch ärgerlich. Das gehört nun mal dazu, wenn sich so viele unterschiedliche Menschen begegnen.

kieztreff_6 Unsere Räume werden gerne von abendlichen Gruppen genutzt. Dabei werden unterschiedliche Aktivitäten geboten und diese Angebote werden gerne angenommen. Doch leider ist es manchmal so, dass diese Möglichkeit ausgenutzt wird. Uns wurde in einem Fall erzählt, dass am Abend in unseren unteren Räumen an unterschiedlichen Tagen und zu verschiedenen Zeiten Licht brannte. Wir überlegten, wer das sein könnte, vielleicht die Reinigungsfirma, doch ein Hausgeist oder, oder … Es ergab sich, dass eine Mitarbeiterin des Hauses durch Zufall an einem Abend nochmal in die Einrichtung kam, weil sie etwas vergessen hatte. Eine Dame aus einer Gruppe hatte es sich in einem unserer Räume gemütlich gemacht und schaute Fernsehen. Die Kollegin fragte sie, was sie hier täte. Als Antwort kam, ihr Fernseher sei kaputt und da hier ja einer steht, kommt sie halt her und nutzt die offensichtliche Möglichkeit. Wir waren wirklich sehr verwundert und erstaunt über diese Selbstverständlichkeit. Natürlich geht so etwas nicht und schon gar nicht ohne Absprache. Das sind zum Glück die Ausnahmen. Dennoch möchten wir es erzählen, zeigt es doch wie flexibel wir manchmal auf die außergewöhnlichsten Dinge reagieren müssen.

Auch  kleinere organisatorische Stolpersteine haben wir erlebt. Die Räume des Nachbarschaftsbereichs werden an den Wochenenden für private Feierlichkeiten vermietet. Darüber führen wir ganz genau Buch, aber dennoch ist uns folgendes passiert: Eine Kollegin hatte an einem Wochenende die Räume zweimal vermietet. Chaos pur! Was können wir nun tun um die Situation zu retten? Beide Parteien konnten ihre Feste nicht verschieben, also überlegten wir gemeinsam, was getan werden kann. Gemeinsam kam auch die zündende Idee. Wie wäre es, wenn beide ihre Feierlichkeit zusammenlegen? Tatsächlich hat das funktioniert – die Themen passten zusammen. Beide Mieter fanden die Idee richtig gut und konnten gemeinsam ein tolles großes Fest feiern. Tja, so kann es auch gehen und wir waren sehr froh und dankbar darüber, dass wir es mit so netten und verständnisvollen Menschen zu tun haben.

kieztreff_8 Ja, das ist Nachbarschaftsarbeit. Wir haben es mit allen Facetten der menschlichen Charaktere zu tun. Stellen uns auf jeden ein, versuchen mit Rat zu helfen, wo es notwendig ist und lachen mit jedem, der es möchte. Vor allem versuchen wir aber den Menschen, die uns besuchen, einen Ort zu geben an dem sie sich kennenlernen können, an dem sie sich wohlfühlen und teil einer Gemeinschaft sein können. Jeder so intensiv wie er es möchte. Allein sein muss niemand – unsere Tür steht offen!

Manuela Kolinski, Projektleiterin Gutshaus Lichterfelde
Rita Schumann, Projektleiterin „kieztreff“

Die Bilder vermitteln Eindrücke aus der Nachbarschaftsarbeit im „kieztreff“